Ernsting´s Auf Wanderwegen

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Das sind alles bekannte Namen. Aber wer ist Ernsting? Die Geschichte des Unternehmens beginnt 1879, als Ernstings Großvater in Rheine den Grundstein für die später entstehenden Textilhäuser in Lünen, Coesfeld und Gronau legt. Ernstings Vater Hugo beginnt nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen Brüdern den Ausbau des väterlichen Geschäftes. Im Zweiten Weltkrieg verwundet, der Vater und die Schwester im Fliegerbombenhagel gestorben, versucht sich der 15-jährige Kurt nach Kriegsende in der Landwirtschaft. „Ich erkannte schnell, dass die Landwirtschaft keine Zukunft hat“, erinnert er sich. Er sattelt um und baut das elterliche Geschäft in Coesfeld wieder auf. 1955 heiratet Kurt seine langjährige Verlobte Lilly Kleier. Fast im Zweijahresrhythmus kommen wenig später die Kinder Bernd, Margret, Stephan und Karin auf die Welt. 1967 hat Ernsting die zündende Idee: Selbstbedienung im Textilhandel. Viel Ware günstig einkaufen, um sie günstig weiterzuverkaufen. Damals nicht einfach, denn es gilt: was nichts kostet, das taugt auch nichts. Seinen ersten Minipreis-Testladen eröffnet der Jungunternehmer in der Waschküche des elterlichen Textilgeschäfts. Weitere Läden entstehen. „Nie hätten wir 1967 gedacht, dass einmal solch ein Unternehmen entsteht“, sagt Pensionär Heinrich Gerding, der über 30 Jahre bei der Family arbeitete. „Bei zehn Geschäften ist Schluss, hat Kurt damals zu mir gesagt.“ Zwei Jahre später sind es 15, 1971 bereits 40 Filialen. 1972 verpachtet Ernsting das elterliche Geschäft, um sich ganz seinem eigenen Unternehmen zu widmen. Minipreis wird im Volksmund auf Grund der winzigen Läden nur Miniladen genannt und heißt fortan auch offiziell so. 1977 betreibt Ernsting 130 Miniläden mit 170 Mitarbeitern. 1985 wird das Unternehmen in Ernsting’s Miniladen umbenannt. Die Umbenennung wird möglich, weil Ernstings Partner und Mitgesellschafter Hans-Georg Kettelgerdes das Unternehmen verlässt und nach Irland auswandert. Seinen vorerst endgültigen Namen Ernsting’s Family bekommt das Unternehmen 1990. In den neuen Bundesländern eröffnen wenig später die ersten Filialen. „Viele hier werden sich fragen: Warum baue ich ein Theater?“, richtet Ernsting das Wort an die Richtfestgemeinde und holt weit aus. Alles habe mit einem alten Münsterländer Hof im Coesfelder Stadtteil Lette begonnen dem der Abriss drohte. Ernstings erzählt von den Anfängen einer Konzertreihe auf dem Alten Hof Herding und der Idee, die Musikereignisse einem größeren Publikum zugänglich zu machen. „Wir wollen Menschen anregen, sich mit Kultur auseinander zu setzen. Das schärft die Analyse- und Kritikfähigkeit, und man kann sein Leben besser gestalten. Darum mache ich das.“ Ernsting, der Verfassungspatriot, der den Artikel 14, Absatz 2 des Grundgesetzes verinnerlicht hat: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Er wolle die Welt anders zurücklassen, als er sie vorgefunden habe, sei ein Satz, den Ernsting gern zum Besten gebe, sagt ein enger Vertrauter: „Ich glaube, er will, dass sich auch in 500 Jahren die Coesfelder noch an ihn erinnern.“ Das ist lange hin. Viel drängender war für Ernsting die Frage: Wer soll in Zukunft den unternehmerischen Takt geben? 1991, mit Anfang 60, plant der Träger des Landesordens erstmals den Wechsel vom operativen Geschäft in den Beirat des Unternehmens. Dort sitzt bereits Paul-Josef Patt, ein ehemaliger Berater von Roland Berger und Generalbevollmächtigter Einkauf bei der Kölner Kaufhalle. Die beiden kennen sich seit Jahren und Ernsting bittet Patt seine Nachfolge anzutreten. Fast anderthalb Jahre dauern die Gespräche, dann sind sich die beiden einig. Viel schneller geht so etwas bei Kurt Ernsting nicht. Patt wird Anfang 1993 geschäftsführender Gesellschafter und erwirbt 25 Prozent am Unternehmen. Im Gegenzug lassen sich bis auf Stephan alle Kinder ausbezahlen.

Ernsting wechselt in den Beirat und entdeckt neue Betätigungsfelder. Er gründet die gemeinnützige Stiftung Alter Hof Herding, rettet den örtlichen Golfclub vor der Pleite, liebäugelt mit dem Kauf des Lokalradiosenders Kiepenkerl und bestellt sich für sechs Millionen Euro einen Zeppelin, den er als Attraktion für sein Unternehmen und das Münsterland nutzen will. Er beschäftigt sich auch mit dem Sinn und Zweck von Stiftungen und erkennt: Eine Stiftung ist der perfekte Weg, sein unternehmerisches Lebenswerk auch über den Tod hinaus zu erhalten und vor Angriffen von außen zu schützen. „Ernsting hatte sich sehr diszipliniert zurückgezogen, doch plötzlich begann er sich wieder einzumischen“, sagt ein langjähriger Wegbegleiter. In Ernsting reift der Entschluss, sein Unternehmen einer Stiftung zu übertragen. Seinen Geschäftsführer will er zwar als Nachfolger behalten – aber ohne Beteiligung. Patt ist nicht begeistert und bittet um die Auflösung seiner Verträge, verkauft seine Anteile an die neugegründete Familienstiftung und verlässt das Unternehmen. Ein Rückschlag. Kraft bei allen Entscheidungen gibt Ernsting sein Glaube, der auch Grundlage seines Wertekodex ist. Vergleichbar ist er darin wohl nur mit dem Schuhkönig Heinz-Horst Deichmann. Oft fährt er in die nahe gelegene Benediktinerabtei Gerleve, wo er einen engen Kontakt zu einem Mönch pflegt. Die Zahl Sieben, die im Christentum eine besondere Bedeutung hat – es gibt sieben Todsünden, sieben Tugenden und das Vaterunser besteht aus sieben Bitten – ist auch in Ernstings Leben eine zentrale Zahl. 1998 vollzieht sich bei Ernstings ein einschneidender Wechsel. Auf Patt folgt Uwe Kettering, der langjährige Chef von Ikea-Deutschland. Kettering stellt das Unternehmen neu auf, packt die operativen Gesellschaften wie Ernsting’s Family, eine Werbeagentur, den Resteladen Preisampel sowie die Ernstings Bau- und Grund GmbH unter die neugeschaffene Ernsting Holding Service GmbH (EHG), an der die Familienstiftung und Stephan Ernsting mehrheitlich beteiligt sind. Auch Tochter Karin kauft sich wieder ein. Das Unternehmen gedeiht prächtig. Zahlen zu Umsatz, Filialen oder Mitarbeitern, die die Fachzeitschrift Textilwirtschaft über Jahre abfragt und veröffentlicht, werden so frisiert, dass nur ein Teil des enormen Wachstums sichtbar wird. 1999 beschäftigt Ernsting’s Family gut 4000 Mitarbeiter in 800 Läden. Der Firmensitz im Coesfelder Ortsteil Lette wird zu eng, und Ernsting lässt ein funkelnagelneues Service-Center auf dem Firmengelände bauen. In Lette ist so in den vergangenen 20 Jahren aus einem kleinen Hallenbau ein Architekturensemble entstanden, das in Deutschland seinesgleichen sucht. „Architektur gehört zu den zehn, vielleicht sogar zu den sechs wichtigsten Dingen im Leben“, sagt Ernsting. Ob gläsern, avantgardistisch, expressiv bewegt oder steinern streng: Die unterschiedlichen Bauten und Gartenanlagen von international renommierten Architekten wie Santiago Calatrava, Fabio Reinhart, Bruno Reichlin, Peter Wirtz oder David Chipperfield entworfen, bieten den architektonischen Rahmen, der Mitarbeitern die nötige Freiheit zum Denken und Arbeiten lassen soll.

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