Ernsting´s Auf Wanderwegen

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Freiheiten, die Holding-Chef Kettering nicht hat. Nach knapp fünf Jahren kehrt er der Family den Rücken und macht sich selbstständig. Trennungsgrund: die fortwährende Einmischung des Patriarchen. Fast täglich ist der Senior im Büro. Für seine Hobbys – etwa das Wegezeichnen, wenn er mit Pinsel, Farbe und Heckenschere losmarschiert und Wanderwege markiert – nimmt er sich kaum noch Zeit. Während einer Weihnachtsfeier 2002, dem Jahr des 35-jährigen Firmenjubiläums beschließt der Übervater seine Ansprache an die 200 Mitarbeiter der Zentrale mit den Worten: „35 Jahre habe ich nun hinter mir, 35 kommen noch. Dann bin ich 107.“ Wie viele andere Familienunternehmer neigt auch Ernsting, den enge Mitarbeiter als rastlose, schwierige, aber faszinierende Persönlichkeit schildern, bisweilen zu schrulligen Entscheidungen. Um etwa ein Restaurant in einem von ihm finanzierten Zentrum für Wissen, Bildung und Kultur selbst betreiben und Einfluss auf Essenspreise und Gestaltung der Speisekarte nehmen zu können, nimmt Ernsting an einem Lehrgang für angehende Gastronomen teil. „Ja, ja, da habe ich mir den Frikadellenschein geholt“, erinnert sich Ernsting. „Der Leiter dieser Fortbildung hat mich sogar gefragt: Herr Ernsting, wollen sie wirklich Gastronom werden?“ Das sei typisch für Kurt, sagt ein Freund. „Wenn er investiert, dann will er auch bestimmen.“ Nach dem Weggang Ketterings wurstelt Ernsting, unterstützt durch seinen langjährigen Finanzchef Hans-Dieter Ernst, abermals alleine vor sich hin. Blut ist dicker als Wasser, aber das hilft auch nicht immer. Die Hoffnung, dass eines seiner vier Kinder seine Nachfolge antreten werde, hat der Senior begraben. Bernd, der älteste ist Kunsthistoriker und lebt in Köln. Margret, die Diplom-Kauffrau, die während des Studiums im elterlichen Unternehmen jobbte, habe sich, meint Ernsting, ein bisschen zurückgezogen, sei verheiratet und habe zwei Kinder. Auch Karin hat das Kapitel Ernsting’s Family offensichtlich abgehakt. Die 42-Jährige absolvierte nach dem Abitur zwar eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau sowie ein Studium zur Textilbetriebswirtin und arbeitete anschließend sogar in der Marketingabteilung bei Ernstings. Doch parallel dazu entdeckte sie ihre Liebe zu Pferden. Sie legte mit Auszeichnung die Prüfung zur Bereiterin und Pferdewirtschaftsmeisterin ab. Karin und ihr Mann Heinrich-Hermann Engemann, ein gelernter Metzger und seit 2001 Präsident des Clubs deutscher Springreiter, leben heute im Osnabrücker Land und betreiben dort eine renommierte Reitanlage, die sich auf Pferdeausbildung und -verkauf spezialisiert hat. Stephan Ernsting dagegen ist immer in Coesfeld geblieben. Nach einer kaufmännischen Lehre in einem Gartenbaubetrieb wurde der 45-Jährige Gärtnermeister. An der Dülmener Straße in Coesfeld betreiben er und seine Frau Birgit Ernstings Paradies, ein riesiges Gartencenter, das ihnen gehört. Grämt es ihn nicht, das keines seiner Kinder Verantwortung im Unternehmen übernommen hat? „Nein“, sagt Ernsting, „ich habe sie nie dazu gedrängt. Sie sollten stets ihren eigenen Weg gehen.“ Heute sind Stephan und Karin jeweils zu 25 Prozent an der EHG beteiligt. Und der Rest? Das wisse er nicht so genau, sagt Ernsting. Da müsse er erst seinen Anwalt anrufen. Die Antwort liefert Ernsting nach einem Telefonat mit seinem fast 80-jährigen Freund, Ratgeber und Anwalt Heinz-Engelbert Fröhlich prompt nach. Demnach halten Ernsting selbst und seine Frau Lilly jeweils 12,35 Prozent und 25,1 Prozent liegen bei der Ernsting-Familienstiftung. Änderungen seien bereits geplant. Künftig soll die Stiftung die Mehrheit der Anteile halten.

Beim Richtfest ergreift der Polier das Wort, schmettert einen Richtspruch und kippt gemeinsam mit den Gästen den Weizenkorn hinunter. Dann drückt er Ernsting einen Hammer und einen riesigen Nagel in die Hand. 23 Schläge später bittet Ernsting mit Tränen in den Augen um den göttlichen Segen für sein Konzerthaus. Nach so viel Rührung wird es leicht schlüpfrig. Überraschungsgast Götz Alsmann – Entertainer und Münsterländer, trällert zu seiner Ukulele von Dingen, die im Mondschein passieren, und trägt Gedichte über das Leben in Hotels in kleinen Städten vor. Wie im beschaulichen Coesfeld, das Ernsting-Nachfolger Stefan Swinka gegen die Metropole Hamburg eingetauscht hat. Seit Januar ist der ehemalige Tchibo- und Unilever-Manager Vorsitzender der Geschäftsführung der Ernsting Holding. Fast drei Jahre hat sich Ernsting nach dem Ausscheiden von Swinka-Vorgänger Kettering Zeit gelassen. „Wir haben bis zu meinem Start eine über ein Jahr dauernde Kennenlernphase aller Beteiligten für wichtig gehalten“, sagt Swinka. „Er ist mein unternehmerischer Nachfolger. Wir denken gleich, und in Herrn Swinka lebt der Geist des Gründers weiter“, sagt Ernsting. Ausschlaggebend für den Wechsel ins Münsterland sei die Tatsache gewesen, unternehmerische Verantwortung übernehmen zu können, sagt Swinka. An der Steigerung des Unternehmenswertes wird er, anders als sein Vorgänger Kettering, beteiligt. Im Coesfelder-Rohbau dampfen Grünkohl-Kartoffeleintopf, Mettwürstchen und Kasseler. Ernsting steigt in seinen silbergrauen Jaguar, den er etwas abseits geparkt hat – im Handschuhfach sein Notizbuch mit den Adressen sämtlicher Filialen – und sinniert über seinen Nachfolger: „Er hat dieses positive Selbstbewusstsein und verlangt sich und unserem Unternehmen alles ab. Und er zieht aus seinem tollen Haus in Hamburg ins Münsterland. Das gefällt mir.“ Auf die Frage, ob er sich nun ganz aus dem Tagesgeschäft zurückziehen werde, antwortet Ernsting: „Ich soll aufhören? Das darf ich mir nicht antun.“

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