Ernsting´s Auf Wanderwegen

Liebe Freunde und Nachbarn, liebe Coesfelder und Münsterländer“, begrüßt Kurt Ernsting die gut 100 Gäste der Richtfestfeier, die an einem nasskalten Freitagvormittag im Februar über die notdürftig mit Schotter befestigten Wege auf der Baustelle gestiefelt sind.

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Hier soll das Konzert Theater Coesfeld entstehen. Am provisorischen Empfang schreibt der evangelische Pfarrer seine besten Wünsche ins Gästebuch und bekommt, wie alle anderen auch, ein Fläschchen Niehoff Garant Weizenkorn mit dem eilig aufgeklebten Logo des Theaters in die Hand gedrückt. Das Konzert Theater Coesfeld ist nicht irgendeine Konzerthalle – es ist der persönliche Kulturtempel eines ebenso unbekannten wie erfolgreichen deutschen Unternehmers: Kurt Ernsting. Von ihm erträumt, realisiert und vor allem von ihm bezahlt. Rund 15 Millionen Euro, heißt es, gebe der 76-jährige Textilhändler und Mäzen für das 600 Besucher fassende Prunkstück in der münsterländischen Provinz aus. Und so belobigen sich in den mit Stehtischen, Holzbänken und Heizstrahlern notdürftig eingerichteten Betonräumen auch keine Ministerpräsidenten, Sparkassenvorstände oder sonstige Investoren. Nur ein kleiner Mann mit buschigen Augenbrauen, Brille, schwarzem Rollkragenpulli, grobkariertem Jackett und einer knatschroten Schiebermütze steht auf der Bühne. An seiner roten Kappe hängt Kurt Ernsting „irgendwie sehr“. Zu Gesicht bekommt man den Gründer des Textilimperiums Ernsting’s Family fast nur zu kulturellen Anlässen in seiner Heimatstadt Coesfeld. Ernsting hat aus dem kleinen Laden seiner Eltern eine Kindermodekette mit über 1100 Läden aufgebaut. Von der Babyrassel bis zur Krempeljeans gibt es da alles, was das Kleinkind braucht. 6200 Mitarbeiter hat Ernsting’s Family und machte zuletzt einen Umsatz von gut 450 Millionen Euro. Doch Ernsting scheut den öffentlichen Auftritt. „Ich mag das nicht. Öffentlichkeitsarbeit wird mir zu oft als Selbstdarstellung verstanden,“ sagt er im Gespräch mit der WirtschaftsWoche, seinem ersten großen Interview. Ernsting ist ein Paradeunternehmer. Er ist eigenwillig bis zur Schrulligkeit, schaffte Werte im Verborgenen – und wenn er eine große Idee hat, lässt er nicht mehr locker. Vielleicht muss, wer Wirtschaft in Deutschland verstehen will, einen wie Ernsting verstehen. Ernsting markierte in seiner Freizeit Wanderwege und hat schon mal einen Zepelin gekauft. Er ist Romantiker und Unternehmer zugleich. „Ernsting zählt zu der leider aussterbenden Spezies des königlichen Kaufmanns. Mit ihm kann man noch Geschäfte mit Handschlag machen“, beschreibt ihn ein Geschäftspartner. Sein Unternehmen hat seit Kurzem ein neues Gesicht. Im Januar übernahm der ehemalige Tchibo-Manager Stefan Swinka das Ruder beim Familienunternehmen in Coesfeld, eines 36.000-Einwohner-Städtchens auf halber Strecke zwischen Münster und Dortmund. Ernstings dritter Anlauf. Seit Mitte der Neunziger hat er seine liebe Not mit den Nachfolgekandidaten. Oder sie mit ihm. Am liebsten macht Ernsting alles selber. Nun hofft der Gründer seinen Mann gefunden zu haben. Mit Swinkas Erfahrung soll der Textilfilialist sein Wachstumstempo hoch halten, stärker in Süddeutschland expandieren, wo Ernsting noch weiße Flecken auf der Landkarte hat, und sich Stück für Stück näher an die Zentren deutscher Großstädte heranpirschen. Um die teuren Innenstadtlagen in Düsseldorf, Berlin oder Frankfurt hat das Unternehmen bislang einen großen Bogen gemacht. Die Ernsting-Lädchen, im Schnitt sind sie kaum größer als 90 Quadratmeter, finden sich fast ausnahmslos in kleinen und mittelgroßen Städten wie Alsfeld oder Bad Pyrmont, Gießen oder Weilburg.

Für viele Eltern ist Ernsting’s Family mit seinem Label Topolino eine feste Größe im Kleiderschrank ihrer Kinder. Denn „die Sachen sind modisch und preiswert zugleich“, sagt Elke Hornung aus Bad Münstereifel. Die Mutter eines sechsjährigen Sohnes und einer zweijährigen Tochter betrat zum ersten Mal eine Ernsting’s-Filiale, als sie noch in Kerpen bei Köln wohnte. Für die junge Mutter war der preiswerte Kinderklamottenladen die Rettung im sonst kleinstädtisch-tristen Warenangebot. Der winzige Shop bot ihr genau das, was sie sonst nur in der Großstadt fand: bezahlbare und aktuelle Kindermode. Die lässt Ernstings vorwiegend in Fernost fertigen, in Fabriken die fast ausschließlich für die Coesfelder arbeiten. Im Vertriebszentrum in Coesfeld-Lette werden sie dann kontrolliert, etikettiert und ausgeliefert. Funktionell, robust und gut durchdacht seien die Kleidungsstücke obendrein, sagt Hornung – etwa Regenmäntel mit herausnehmbarem Innenleben, die wiederum solo getragen werden können: „Ich habe keine Lust, meine Kinder ständig umzuziehen, eine Jacke für alle Gelegenheiten ist optimal.“ Wer jedoch glaubt, das junge Mütter die besten und treuesten Kunden sind, irrt. „Das sind die Omas“, sagt Ernsting. Omas gibt es überall und so expandiert das Unternehmen unaufhaltsam: 58 neue Läden 2004, 75 im vergangenen Jahr und 75 sollen es auch in diesem Jahr werden. Kräftiges Wachstum, kleine Städte, bezahlbare Mieten, wenig Wettbewerber, wechselnde und preiswerte Kollektionen – das Ernsting-Konzept geht auf. Im aktuellen Konzernlagebericht heißt es bescheiden: „Die Finanzlage der Unternehmensgruppe ist geordnet und zufriedenstellend. Die Investitionen liegen deutlich über den Abschreibungen und wurden aus dem erwirtschafteten Cash-Flow finanziert.“ Bei einem Umsatz von gut 450 Millionen Euro – rund acht Prozent mehr als im Vorjahr – erwirtschaftete das Unternehmen ein Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit von 36 Millionen Euro und einen Jahresüberschuss von fast 21 Millionen Euro. Mit einer Umsatzrendite von knapp acht Prozent liegt Ernsting weit über dem Schnitt des Textilhandels von rund einem Prozent. Im Ausland ist Ernsting’s Family bis auf fünf Läden in den Niederlanden nicht vertreten. Und die entstanden mehr aus Zufall und auf Grund der Eigeninitiative eines holländischen Ernstings-Vertriebsleiters. „Wir müssen nicht ins Ausland. Es gibt noch genügend Wachstumspotenzial in Deutschland“, wiegelt Ernsting ab – eine Aussage mit Seltenheitswert. „Unser Anteil am gesamten deutschen Textilmarkt ist noch sehr gering.“ Anders sieht das bei Kindermode aus: Da bringen es die Coesfelder schon auf zehn Prozent. Beachtlich, denn die Konkurrenz reicht von Aldi und Tchibo über Baby Walz, Karstadt, Kaufhof bis hin zu H&M, Otto oder Benetton. Und so schafft es Ernsting’s Family auf Platz 18 der größten Textilhändler in Deutschland; nur knapp hinter Peek & Cloppenburg und noch vor Esprit, Breuninger, Wöhrl oder Woolworth.

Das sind alles bekannte Namen. Aber wer ist Ernsting? Die Geschichte des Unternehmens beginnt 1879, als Ernstings Großvater in Rheine den Grundstein für die später entstehenden Textilhäuser in Lünen, Coesfeld und Gronau legt. Ernstings Vater Hugo beginnt nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen Brüdern den Ausbau des väterlichen Geschäftes. Im Zweiten Weltkrieg verwundet, der Vater und die Schwester im Fliegerbombenhagel gestorben, versucht sich der 15-jährige Kurt nach Kriegsende in der Landwirtschaft. „Ich erkannte schnell, dass die Landwirtschaft keine Zukunft hat“, erinnert er sich. Er sattelt um und baut das elterliche Geschäft in Coesfeld wieder auf. 1955 heiratet Kurt seine langjährige Verlobte Lilly Kleier. Fast im Zweijahresrhythmus kommen wenig später die Kinder Bernd, Margret, Stephan und Karin auf die Welt. 1967 hat Ernsting die zündende Idee: Selbstbedienung im Textilhandel. Viel Ware günstig einkaufen, um sie günstig weiterzuverkaufen. Damals nicht einfach, denn es gilt: was nichts kostet, das taugt auch nichts. Seinen ersten Minipreis-Testladen eröffnet der Jungunternehmer in der Waschküche des elterlichen Textilgeschäfts. Weitere Läden entstehen. „Nie hätten wir 1967 gedacht, dass einmal solch ein Unternehmen entsteht“, sagt Pensionär Heinrich Gerding, der über 30 Jahre bei der Family arbeitete. „Bei zehn Geschäften ist Schluss, hat Kurt damals zu mir gesagt.“ Zwei Jahre später sind es 15, 1971 bereits 40 Filialen. 1972 verpachtet Ernsting das elterliche Geschäft, um sich ganz seinem eigenen Unternehmen zu widmen. Minipreis wird im Volksmund auf Grund der winzigen Läden nur Miniladen genannt und heißt fortan auch offiziell so. 1977 betreibt Ernsting 130 Miniläden mit 170 Mitarbeitern. 1985 wird das Unternehmen in Ernsting’s Miniladen umbenannt. Die Umbenennung wird möglich, weil Ernstings Partner und Mitgesellschafter Hans-Georg Kettelgerdes das Unternehmen verlässt und nach Irland auswandert. Seinen vorerst endgültigen Namen Ernsting’s Family bekommt das Unternehmen 1990. In den neuen Bundesländern eröffnen wenig später die ersten Filialen. „Viele hier werden sich fragen: Warum baue ich ein Theater?“, richtet Ernsting das Wort an die Richtfestgemeinde und holt weit aus. Alles habe mit einem alten Münsterländer Hof im Coesfelder Stadtteil Lette begonnen dem der Abriss drohte. Ernstings erzählt von den Anfängen einer Konzertreihe auf dem Alten Hof Herding und der Idee, die Musikereignisse einem größeren Publikum zugänglich zu machen. „Wir wollen Menschen anregen, sich mit Kultur auseinander zu setzen. Das schärft die Analyse- und Kritikfähigkeit, und man kann sein Leben besser gestalten. Darum mache ich das.“ Ernsting, der Verfassungspatriot, der den Artikel 14, Absatz 2 des Grundgesetzes verinnerlicht hat: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Er wolle die Welt anders zurücklassen, als er sie vorgefunden habe, sei ein Satz, den Ernsting gern zum Besten gebe, sagt ein enger Vertrauter: „Ich glaube, er will, dass sich auch in 500 Jahren die Coesfelder noch an ihn erinnern.“ Das ist lange hin. Viel drängender war für Ernsting die Frage: Wer soll in Zukunft den unternehmerischen Takt geben? 1991, mit Anfang 60, plant der Träger des Landesordens erstmals den Wechsel vom operativen Geschäft in den Beirat des Unternehmens. Dort sitzt bereits Paul-Josef Patt, ein ehemaliger Berater von Roland Berger und Generalbevollmächtigter Einkauf bei der Kölner Kaufhalle. Die beiden kennen sich seit Jahren und Ernsting bittet Patt seine Nachfolge anzutreten. Fast anderthalb Jahre dauern die Gespräche, dann sind sich die beiden einig. Viel schneller geht so etwas bei Kurt Ernsting nicht. Patt wird Anfang 1993 geschäftsführender Gesellschafter und erwirbt 25 Prozent am Unternehmen. Im Gegenzug lassen sich bis auf Stephan alle Kinder ausbezahlen.

Ernsting wechselt in den Beirat und entdeckt neue Betätigungsfelder. Er gründet die gemeinnützige Stiftung Alter Hof Herding, rettet den örtlichen Golfclub vor der Pleite, liebäugelt mit dem Kauf des Lokalradiosenders Kiepenkerl und bestellt sich für sechs Millionen Euro einen Zeppelin, den er als Attraktion für sein Unternehmen und das Münsterland nutzen will. Er beschäftigt sich auch mit dem Sinn und Zweck von Stiftungen und erkennt: Eine Stiftung ist der perfekte Weg, sein unternehmerisches Lebenswerk auch über den Tod hinaus zu erhalten und vor Angriffen von außen zu schützen. „Ernsting hatte sich sehr diszipliniert zurückgezogen, doch plötzlich begann er sich wieder einzumischen“, sagt ein langjähriger Wegbegleiter. In Ernsting reift der Entschluss, sein Unternehmen einer Stiftung zu übertragen. Seinen Geschäftsführer will er zwar als Nachfolger behalten – aber ohne Beteiligung. Patt ist nicht begeistert und bittet um die Auflösung seiner Verträge, verkauft seine Anteile an die neugegründete Familienstiftung und verlässt das Unternehmen. Ein Rückschlag. Kraft bei allen Entscheidungen gibt Ernsting sein Glaube, der auch Grundlage seines Wertekodex ist. Vergleichbar ist er darin wohl nur mit dem Schuhkönig Heinz-Horst Deichmann. Oft fährt er in die nahe gelegene Benediktinerabtei Gerleve, wo er einen engen Kontakt zu einem Mönch pflegt. Die Zahl Sieben, die im Christentum eine besondere Bedeutung hat – es gibt sieben Todsünden, sieben Tugenden und das Vaterunser besteht aus sieben Bitten – ist auch in Ernstings Leben eine zentrale Zahl. 1998 vollzieht sich bei Ernstings ein einschneidender Wechsel. Auf Patt folgt Uwe Kettering, der langjährige Chef von Ikea-Deutschland. Kettering stellt das Unternehmen neu auf, packt die operativen Gesellschaften wie Ernsting’s Family, eine Werbeagentur, den Resteladen Preisampel sowie die Ernstings Bau- und Grund GmbH unter die neugeschaffene Ernsting Holding Service GmbH (EHG), an der die Familienstiftung und Stephan Ernsting mehrheitlich beteiligt sind. Auch Tochter Karin kauft sich wieder ein. Das Unternehmen gedeiht prächtig. Zahlen zu Umsatz, Filialen oder Mitarbeitern, die die Fachzeitschrift Textilwirtschaft über Jahre abfragt und veröffentlicht, werden so frisiert, dass nur ein Teil des enormen Wachstums sichtbar wird. 1999 beschäftigt Ernsting’s Family gut 4000 Mitarbeiter in 800 Läden. Der Firmensitz im Coesfelder Ortsteil Lette wird zu eng, und Ernsting lässt ein funkelnagelneues Service-Center auf dem Firmengelände bauen. In Lette ist so in den vergangenen 20 Jahren aus einem kleinen Hallenbau ein Architekturensemble entstanden, das in Deutschland seinesgleichen sucht. „Architektur gehört zu den zehn, vielleicht sogar zu den sechs wichtigsten Dingen im Leben“, sagt Ernsting. Ob gläsern, avantgardistisch, expressiv bewegt oder steinern streng: Die unterschiedlichen Bauten und Gartenanlagen von international renommierten Architekten wie Santiago Calatrava, Fabio Reinhart, Bruno Reichlin, Peter Wirtz oder David Chipperfield entworfen, bieten den architektonischen Rahmen, der Mitarbeitern die nötige Freiheit zum Denken und Arbeiten lassen soll.

Freiheiten, die Holding-Chef Kettering nicht hat. Nach knapp fünf Jahren kehrt er der Family den Rücken und macht sich selbstständig. Trennungsgrund: die fortwährende Einmischung des Patriarchen. Fast täglich ist der Senior im Büro. Für seine Hobbys – etwa das Wegezeichnen, wenn er mit Pinsel, Farbe und Heckenschere losmarschiert und Wanderwege markiert – nimmt er sich kaum noch Zeit. Während einer Weihnachtsfeier 2002, dem Jahr des 35-jährigen Firmenjubiläums beschließt der Übervater seine Ansprache an die 200 Mitarbeiter der Zentrale mit den Worten: „35 Jahre habe ich nun hinter mir, 35 kommen noch. Dann bin ich 107.“ Wie viele andere Familienunternehmer neigt auch Ernsting, den enge Mitarbeiter als rastlose, schwierige, aber faszinierende Persönlichkeit schildern, bisweilen zu schrulligen Entscheidungen. Um etwa ein Restaurant in einem von ihm finanzierten Zentrum für Wissen, Bildung und Kultur selbst betreiben und Einfluss auf Essenspreise und Gestaltung der Speisekarte nehmen zu können, nimmt Ernsting an einem Lehrgang für angehende Gastronomen teil. „Ja, ja, da habe ich mir den Frikadellenschein geholt“, erinnert sich Ernsting. „Der Leiter dieser Fortbildung hat mich sogar gefragt: Herr Ernsting, wollen sie wirklich Gastronom werden?“ Das sei typisch für Kurt, sagt ein Freund. „Wenn er investiert, dann will er auch bestimmen.“ Nach dem Weggang Ketterings wurstelt Ernsting, unterstützt durch seinen langjährigen Finanzchef Hans-Dieter Ernst, abermals alleine vor sich hin. Blut ist dicker als Wasser, aber das hilft auch nicht immer. Die Hoffnung, dass eines seiner vier Kinder seine Nachfolge antreten werde, hat der Senior begraben. Bernd, der älteste ist Kunsthistoriker und lebt in Köln. Margret, die Diplom-Kauffrau, die während des Studiums im elterlichen Unternehmen jobbte, habe sich, meint Ernsting, ein bisschen zurückgezogen, sei verheiratet und habe zwei Kinder. Auch Karin hat das Kapitel Ernsting’s Family offensichtlich abgehakt. Die 42-Jährige absolvierte nach dem Abitur zwar eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau sowie ein Studium zur Textilbetriebswirtin und arbeitete anschließend sogar in der Marketingabteilung bei Ernstings. Doch parallel dazu entdeckte sie ihre Liebe zu Pferden. Sie legte mit Auszeichnung die Prüfung zur Bereiterin und Pferdewirtschaftsmeisterin ab. Karin und ihr Mann Heinrich-Hermann Engemann, ein gelernter Metzger und seit 2001 Präsident des Clubs deutscher Springreiter, leben heute im Osnabrücker Land und betreiben dort eine renommierte Reitanlage, die sich auf Pferdeausbildung und -verkauf spezialisiert hat. Stephan Ernsting dagegen ist immer in Coesfeld geblieben. Nach einer kaufmännischen Lehre in einem Gartenbaubetrieb wurde der 45-Jährige Gärtnermeister. An der Dülmener Straße in Coesfeld betreiben er und seine Frau Birgit Ernstings Paradies, ein riesiges Gartencenter, das ihnen gehört. Grämt es ihn nicht, das keines seiner Kinder Verantwortung im Unternehmen übernommen hat? „Nein“, sagt Ernsting, „ich habe sie nie dazu gedrängt. Sie sollten stets ihren eigenen Weg gehen.“ Heute sind Stephan und Karin jeweils zu 25 Prozent an der EHG beteiligt. Und der Rest? Das wisse er nicht so genau, sagt Ernsting. Da müsse er erst seinen Anwalt anrufen. Die Antwort liefert Ernsting nach einem Telefonat mit seinem fast 80-jährigen Freund, Ratgeber und Anwalt Heinz-Engelbert Fröhlich prompt nach. Demnach halten Ernsting selbst und seine Frau Lilly jeweils 12,35 Prozent und 25,1 Prozent liegen bei der Ernsting-Familienstiftung. Änderungen seien bereits geplant. Künftig soll die Stiftung die Mehrheit der Anteile halten.

Beim Richtfest ergreift der Polier das Wort, schmettert einen Richtspruch und kippt gemeinsam mit den Gästen den Weizenkorn hinunter. Dann drückt er Ernsting einen Hammer und einen riesigen Nagel in die Hand. 23 Schläge später bittet Ernsting mit Tränen in den Augen um den göttlichen Segen für sein Konzerthaus. Nach so viel Rührung wird es leicht schlüpfrig. Überraschungsgast Götz Alsmann – Entertainer und Münsterländer, trällert zu seiner Ukulele von Dingen, die im Mondschein passieren, und trägt Gedichte über das Leben in Hotels in kleinen Städten vor. Wie im beschaulichen Coesfeld, das Ernsting-Nachfolger Stefan Swinka gegen die Metropole Hamburg eingetauscht hat. Seit Januar ist der ehemalige Tchibo- und Unilever-Manager Vorsitzender der Geschäftsführung der Ernsting Holding. Fast drei Jahre hat sich Ernsting nach dem Ausscheiden von Swinka-Vorgänger Kettering Zeit gelassen. „Wir haben bis zu meinem Start eine über ein Jahr dauernde Kennenlernphase aller Beteiligten für wichtig gehalten“, sagt Swinka. „Er ist mein unternehmerischer Nachfolger. Wir denken gleich, und in Herrn Swinka lebt der Geist des Gründers weiter“, sagt Ernsting. Ausschlaggebend für den Wechsel ins Münsterland sei die Tatsache gewesen, unternehmerische Verantwortung übernehmen zu können, sagt Swinka. An der Steigerung des Unternehmenswertes wird er, anders als sein Vorgänger Kettering, beteiligt. Im Coesfelder-Rohbau dampfen Grünkohl-Kartoffeleintopf, Mettwürstchen und Kasseler. Ernsting steigt in seinen silbergrauen Jaguar, den er etwas abseits geparkt hat – im Handschuhfach sein Notizbuch mit den Adressen sämtlicher Filialen – und sinniert über seinen Nachfolger: „Er hat dieses positive Selbstbewusstsein und verlangt sich und unserem Unternehmen alles ab. Und er zieht aus seinem tollen Haus in Hamburg ins Münsterland. Das gefällt mir.“ Auf die Frage, ob er sich nun ganz aus dem Tagesgeschäft zurückziehen werde, antwortet Ernsting: „Ich soll aufhören? Das darf ich mir nicht antun.“

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