Erstwähler Visionen der Nachhaltigkeit

Quelle: imago images

FDP und Grüne sind bei Erstwählern besonders beliebt. Der Grund: Beide Parteien entwerfen Wege in die Zukunft, wenn auch unterschiedliche. Ein Gastbeitrag.

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Für manche Beobachter war es eine riesige Überraschung: Die stärkste Partei bei den Erstwählern und -wählerinnen zum Deutschen Bundestag ist neben den Grünen die FDP. Beide Parteien erhielten 23 Prozent aller abgegebenen Stimmen, dahinter folgen, mit einigem Abstand, SPD (15), Union (10), Linke (8) und AfD (7). Woran liegt das?

Die Antwort ist einfach: Junge Menschen suchen nach Zukunftsvisionen der Gesellschaft, in der sie leben. Denn sie haben eine sehr lange Zeitperspektive. Bei der derzeitigen Lebenserwartung von rund 80 Jahren geht es bei ihnen im Alter von 18 bis 22 Jahren um rund sechs Jahrzehnte, also zwei volle Generationen. Ihr Leben dauert im statistischen Mittel bis etwa zum Jahr 2080; und wenn sie eine Familie gründen und Kinder haben, deren Schicksal ihnen alles andere als egal ist, dann reicht ihr persönlicher Horizont in das 22. Jahrhundert hinein.

Es kann deshalb nicht verwundern, dass die Nachhaltigkeit gleich welcher gesellschaftlichen Entwicklung für sie von überragender Bedeutung ist. Ökonomen würden sagen: Ihre Rate der „Zeitpräferenz“ ist gering; der Zins, mit dem sie den Zustand gegen Ende dieses Jahrhunderts diskontieren, fällt niedrig aus. Investitionen in diese ferne Zukunft sind erwünscht und werden sehr ernst genommen, auch wenn sie im Hier und Jetzt relativ teuer ausfallen.

von Sonja Álvarez, Sophie Crocoll, Daniel Goffart, Max Haerder, Cordula Tutt

Eben dies erklärt seit Langem die Attraktivität eines dezidiert grünen Parteiprogramms, das bereit ist, den Menschen heute und morgen hohe Lasten und große Beschränkungen aufzuerlegen, um übermorgen und danach noch gut leben zu können. Kaum jemand ist deshalb erstaunt, wenn Grüne bei Erstwählern gut abschneiden, was sie ja auch seit langer Zeit tun.

Aber wieso nun plötzlich auch die FDP? Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Das Programm der Liberalen ist mehr denn je zu einem Programm der Nachhaltigkeit geworden. Nur eben mit anderen politischen Instrumenten der Anpassung: Setzen die Grünen auf staatliche Lenkung, entscheiden sich die Liberalen für möglichst viel Freiheit bei der Neuordnung der Rahmenbedingungen, eine Art reformierte Marktwirtschaft (und kein Staatskapitalismus!). Klassisches Beispiel dafür sind Klima-, Technologie- und Rentenpolitik, bei denen die Grünen für harte staatliche Eingriffe plädieren: beim Klima durch Verbote und Gebote, bei der Technologie durch harte Vorgaben und massive Förderung, bei der Rente durch Ausweitung und Subventionierung des bestehenden Systems. Demgegenüber will die FDP beim Klima den umfassenden Emissionshandel im Rahmen eines festen Deckels für den CO2-Ausstoß, bei der Technologie die Entscheidung des Marktes durch Innovationen in einem klug gewählten Ordnungsrahmen, und bei der Rente die Schaffung von neuen Formen des Aktiensparens.

Beide Parteien stecken damit gewissermaßen die Pole der gesellschaftlichen Anpassung ab – hin zur Nachhaltigkeit. Und sie werben natürlich für ihr Modell: die Grünen, indem sie die angebliche Alternativlosigkeit einer Welt zeichnen, in der sich das Verhalten der Menschen den ökologischen und sozialen Zwängen anpasst, die FDP, indem sie die soziale Marktwirtschaft in einen neuen Ordnungsrahmen einhegt, der die Erreichung der langfristigen Ziele der Nachhaltigkeit ermöglicht, aber möglichst viel Freiräume der Kreativität und Offenheit lässt. Genau dies ist für einen großen Teil der jungen Menschen von viel größerer Bedeutung, als viele Beobachter bisher glaubten.

Junge Menschen finden anscheinend – je nach persönlichen Neigungen – beide Grundstrategien mehr oder weniger interessant, aber jedenfalls viel interessanter als das, was andere Parteien zu bieten haben. Grüne und FDP liefern auf die großen Herausforderungen ernsthafte Antworten, über die sich streiten lässt – und das ist doch viel mehr als die ausweichenden Manöver der Parteien im restlichen politischen Spektrum. Dort finden sich dann mehr die abgeklärten Älteren, denen sowohl grüne als auch liberale Visionen suspekt sind.

Natürlich gefallen die grünen und liberalen Konzepte auch innerhalb der jungen Generation verschiedenen Gruppen der Gesellschaft in unterschiedlichem Maße. Das gehört zum ganz normalen politischen Geschäft. Naheliegendstes Beispiel: die Geschlechter. Unter den Wählern im Alter von 18 bis 24 Jahren entschieden sich 26 Prozent der Frauen für die Grünen und „nur“ 16 Prozent für die FDP; bei den Männern war es umgekehrt: 27 Prozent für die FDP, „nur“ 20 Prozent für die Grünen. Offenbar sind junge Frauen im Durchschnitt skeptischer gegenüber der Kreativität des Marktes sowie der Zukunftsfähigkeit neuer Technologien und Rentenkonzepte als junge Männer. Ist das so schlimm? Hauptsache beide Geschlechter kümmern sich in jungen Jahren um die Nachhaltigkeit!

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Darauf lässt sich sehr gut aufbauen. Durch das, was gute Politik auszeichnet: Kompromisse. Es wird sich zeigen, ob und, wenn ja wie, FDP und Grüne von der reinen Vision zur praktischen Politik übergehen. Je besser ihnen dies gelingt, umso besser für Deutschland. Aber immerhin: Ein Anfang ist gemacht – nach den lähmenden Merkel-Jahren der sogenannten Großen Koalition.

Mehr zum Thema: Ampelkoalition – oder doch lieber Jamaika? Da gehen bei FDP und Grünen die Meinungen durchaus auseinander. Einigkeit aber herrscht in einer Frage: Wenn Armin Laschet als Option wegbricht, wird der Machtpoker schwieriger.

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