
Von den meisten Büchern bleiben bloß Zitate übrig, stichelte der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec einmal: „Warum also nicht gleich bloß Zitate schreiben?“ Was weiß der durchschnittlich gebildete Zeitungsleser heute noch von Immanuel Kant, Adam Smith und Karl Marx? Dass „Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ist.
Dass es „nicht die Wohltätigkeit des Bäckers, Brauers oder Metzgers ist, die uns satt macht, sondern sein Eigeninteresse“. Dass Philosophen „die Welt nur verschieden interpretiert haben“, es aber recht eigentlich darauf ankomme, „sie zu verändern“. Wie entwurzelte Bäume liegen solche Zitate heute allerorts in der Geisteslandschaft herum: Überreste abgeholzten Denkens. Brennmaterial für Festtagsredner zum Verfeuern leichter Gedanken. Es ist wirklich traurig.
Besonders übel hat es Ludwig Erhard erwischt, die Ikone des deutschen Wirtschaftswunders. Von Erhard weiß man, dass er der „Vater der sozialen Marktwirtschaft“ ist. Dass er die retweetfähige Formel vom „Wohlstand für alle“ prägte. Und natürlich, dass er uns Deutschen eine wirtschaftspolitische Ewigkeitsweisheit ins Stammbuch geschrieben hat: „Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig“. Aber nein, halt, stopp, das war ja Karl Schiller von der SPD, der den Sozialdemokraten in den Fünfzigerjahren den Marxismus austreiben musste. Gott, was soll’s? So ähnlich hat das damals sicher auch Ludwig Erhard gesagt. Und wenn nicht: So ähnlich hat Ludwig Erhard das damals sicher gemeint. Und wenn nicht: So ähnlich würde Ludwig Erhard das ganz bestimmt heute sagen. Oder meinen. Es ist wirklich traurig.
Kämpfer gegen den Marxismus
Kurt Schumacher, SPD-Chef von 1946 bis 1952, wollte „aus Deutschland noch ein sozialistisches Land auf wirtschaftlichem Gebiet“ machen. Im Godesberger Programm der SPD (1959), das Karl Schiller maßgeblich mitgestaltete, hieß es: „Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig.“ Erst 1963 war die SPD so weit, dass der spätere Wirtschaftsminister jede Art von Planung ablehnte.
Ludwig Erhard wird von Traumtänzern aller Parteien behandelt wie eine wirtschaftspolitische Jukebox. Alle stehen sie um ihn herum, spendieren ein paar Groschen, spielen sich gegenseitig ihre Lieblingsstellen vor und fordern die anderen zum Mitsummen auf. Allein die komplexe Harmonie von Erhards ökonomischem Denken – Preisstabilität und Sparwille, Wohlstand durch Wettbewerb, Erwirtschaften vor Umverteilen, selbstsorgender Bürger statt sozialer Untertan, Schutz des Konsumenten gegen Eigentumskonzentration und Machtwirtschaft – vermag niemand mehr zu vernehmen. Keiner ist an einem ernsthaften Hinhören interessiert, an der historischen Einordnung seines singulären Wirkens, an der Würdigung seiner ordnungspolitischen Klarsicht in den beiden schwierigen Nachkriegsjahrzehnten. Jeder leiht sich bloß seine Autorität, spannt ihn für seine billigen Zwecke ein und verramscht ihn zum Zitatlieferanten, in der Hoffnung, dass ein wenig Abglanz vom Mythos „Ludwig Erhard“ auch auf ihn fallen möge.
Drei Fakten zu Ludwig Erhard
Der 20. Juni 1948 (Währungsreform) und der 24. Juni 1948 (Freigabe der Industriepreise) sind so etwas wie inoffizielle Gründungsdaten der Bundesrepublik: Als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in der besetzten Bizone schuf Ludwig Erhard den (west-)deutschen Staat aus dem Geist der sozialen Marktwirtschaft, noch bevor er sich rechtlich konstituierte.
Die großen Wahlerfolge der CDU 1953 und 1957 waren zu großen Teilen das Verdienst von Ludwig Erhard. Als Wirtschaftsminister unter Kanzler Konrad Adenauer verband er den – internationalen – Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland höchst erfolgreich mit dem Leitbild der sozialen Marktwirtschaft.
Mit „Wohlstand für alle“ schrieb Ludwig Erhard 1957 sein ordnungspolitisches Manifest: Wohlstand durch Wettbewerb. Erwirtschaften vor Verteilen. Mündiger Bürger statt sozialer Untertan. In seinen Kanzlerjahren (1963–1966) hat er die neoliberale Theorie erfolglos mit dem Begriff einer arbeitsteilig „formierten Gesellschaft“ zu aktualisieren versucht.
Das FDP-Urgestein Rainer Brüderle zum Beispiel hat zwar eifrig Standortpolitik zur Förderung des vermachteten Finanzwesens betrieben, war sich aber dennoch jederzeit sicher, dass Ludwig Erhard „heute in der FDP“ wäre. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums kommt Sahra Wagenknecht (Linke) zu dem interessanten Schluss, dass eine Politik des „geplünderten Staats“ und der „Marktentfesselung“ Deutschland und Europa in ein „Schlachtfeld“ mit „zertrümmerten“ Mittelschichten verwandelt habe, weshalb Ludwig Erhard heute selbstverständlich „mit seinen Ansprüchen bei uns am besten aufgehoben wäre“. Fast harmlos wirkte dagegen der Annektionsversuch des ehemaligen Wirtschaftsministers Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), der sich in einem Zeitungsinterview aufplustern durfte, Ludwig Erhard „in den vergangenen Jahren bereits mehrfach gelesen“, ja: stets „auf dem Schreibtisch liegen“ zu haben. Da konnte selbst Jürgen Trittin (Grüne) nicht widerstehen und ließ sich seinen Steuererhöhungswahlkampf von Erhard persönlich absegnen: Die geplante Vermögensabgabe sei nichts anderes als ein „Lastenausgleich, wie es ihn unter Ludwig Erhard für die Vertriebenen gab“. Viel Feind, viel Ehr? Ludwig Erhard hat keine Feinde mehr. Nur noch falsche Freunde. Tiefer kann man nicht sinken.
Neoliberalismus
Neoliberalismus ist ein 1938 vom deutschen Soziologen Alexander Rüstow geprägter Begriff. Er bezeichnet keine homogene Theorie, sondern einen „dritten Weg“ zwischen Laissez-faire-Liberalismus und Sozialismus: Der Staat setzt einen Ordnungsrahmen, um die Marktkräfte bestmöglich zu entfalten.
Die scheinheilige Hochachtung, die man Ludwig Erhard erweist, wird nur noch übertroffen von der Respektlosigkeit, mit der man seine Maximen verhunzt: Man verbeugt sich vor dem Denkmal des Wirtschaftswunders und schändet sein Fundament. Sigmar Gabriel (SPD) zum Beispiel, der neue Wirtschaftsminister, will mit „Staat“ und „Markt“ auch „Freiheit“ und „Sicherheit“ in eine „neue Balance“ bringen. Nun, warum nicht, genau darum ging es auch Ludwig Erhard vor sechs Jahrzehnten. Allein, was meinten die beiden damit? Ludwig Erhard verstand unter einer „neuen Balance“ das Durchsetzen einer neoliberalen Wettbewerbsordnung, die den Leistungswillen der Menschen stärkt und keine Konzentration von Macht zulässt. Ihm schwebte ein wachsamer Schiedsrichter-Staat vor, dessen sozialer Charakter vor allem darin besteht, die Kräfte des Marktes zu entfesseln. Produktivität ist für Erhard der Schlüssel für den Aufbau von Sozialkapital. Und Wachstum heißt „Wohlstand für alle“.