
Amerikaner, die politische Führung zu einer Wissenschaft erhoben haben, sprechen von einem „Teflon-Präsidenten“, wenn an einem ihrer Staatsoberhäupter jeder Skandal mühelos abperlt. Charisma schützt diese so gut wie Antihaftbeschichtung. Angela Merkel ist keine Amerikanerin, sie ist auch nur eine Kanzlerin, und sie lässt bei ihren Auftritten kaum Zweifel daran, dass Charisma für sie höchstens eine Vokabel aus dem Griechisch-Unterricht ist.
Dennoch gehört die Bundeskanzlerin ohne jeden Zweifel in die exklusive Gemeinschaft der Teflon-Politiker. Der schwer fassbare Skandal, den sie an sich abperlen lässt, ist ihre politische Unfassbarkeit. Gleich, welche Pirouette Merkel auch dreht, was für programmatische Volten sie ihrer Partei, ihrem Land, ihren Bürgern zumutet, an ihrem schwindelnd hohen Ansehen ändert es nichts. Merkel ist die große Unberührbare der bundesdeutschen Politik.





Ihr ungewöhnliches Erfolgsgeheimnis lautet Gewöhnlichkeit. Die Bürger haben sich an ihre Kanzlerin gewöhnt wie an einen Couchtisch, man macht es sich mit ihr gemütlich, sie gehört zum Inventar der neuen Bundesrepublik so wie „Wetten, dass..?“ zur alten. Merkels Regierungsprogramm besteht aus drei Worten: „Sie kennen mich.“
Nur, dass man das gar nicht tut, weil es unmöglich wäre. Angela Merkel hat das Undefinierte der Politik definitiv und das Unkonkrete des Regierens konkret gemacht. Sie war mal für Atomkraft, Krieg und Deregulierung, dann dagegen. Im Übrigen aber, stets verlässlich: dazwischen. Von Ausreißern abgesehen, erschöpft sich ihre Führung in situativer, ideell anspruchsloser, visionsfreier, bestenfalls pragmatisch-professioneller Politik nach Vorschrift und Geschäftsordnung.
Das erschöpft uns alle. Zugleich ist diese Politik der schleichenden Entpolitisierung und mentalen Stilllegung jedoch derart effektiv, dass Merkel ihr zehntes Dienstjubiläum im Herbst dieses Jahres im Stil einer ewigen Kanzlerin begehen könnte. Oder doch nicht?
Merkels Schlafmittel
Die bislang interessanteste Wendung der BND-Affäre ist schließlich, dass Merkel auf einmal berührbar werden könnte. Der wohlüberlegte Angriff auf Merkels Glaubwürdigkeit durch Vizekanzler Sigmar Gabriel hat das Zeug zu jener Attacke, die Merkel zu einer sterblichen Politikerin werden lässt.
Nutzt Gabriel diese Chance, könnte er die Leidenschaft zurück in die deutsche Politik bringen – und so der Bundesrepublik das Schlafmittel entziehen, das Merkel ihr verabreicht hat. Es würde wieder ganz normal werden, im derzeit mächtigsten Land Europas zu diskutieren, was sich mit Macht anfangen lässt, also über Linie und Zukunft des eigenen Landes, des Kontinents, ja: der Welt.
Und überhaupt: Kann Gabriel es sich leisten, dies nicht zu versuchen? Der Bauchmensch drängt auf dieses Duell gegen den Kopfmenschen Merkel, denn sonst bliebe er, was er heute ist: der talentierteste Unvollendete der deutschen Politik.