Estland, Dänemark, Kanada Was Deutschland bei der Digitalisierung vom Ausland lernen kann

Digitale Verwaltung: Während andere Länder längst Tatsachen geschaffen haben, hinkt Deutschland noch immer hinterher. Quelle: imago images

Estland und Dänemark gelten als Vorzeigeländer der Digitalisierung, Kanada wird für seine KI-Strategie, Taiwan für seine Cyberministerin bewundert. Trotz aller Unterschiede kann sich Deutschland einiges abschauen, um endlich schneller voranzukommen.

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Zu Beginn ein Fakt und eine Legende: Als Estland 1991 von der Sowjetunion unabhängig wurde, hatten weniger als die Hälfte der Esten einen Telefonanschluss. Die einzige unabhängige Verbindung zur Außenwelt sei damals, so berichtete das Magazin „Economist“ einmal, ein finnisches Mobiltelefon gewesen – versteckt im Garten des Außenministers.

Nicht einmal drei Jahrzehnte später gilt Estland als Vorzeigeland der Digitalisierung. Ihre Steuererklärung können Esten online erledigen, es dauert wenige Minuten. Sie können auch über das Internet wählen – fast jeder zweite Wähler tat dies bei der vergangenen Abstimmung. Und wer will, meldet sich mit seiner digitalen Identität auf einem Gesundheitsportal an und ruft seine Laborergebnisse ab.

Auf Digitalkonferenzen und Fachtagungen sind Esten daher gefragt. Von Pforzheim bis Osnabrück wollen Bürgermeisterinnen und Staatssekretäre lernen, wie es denn nun gelingt, das öffentliche Leben zu digitalisieren. 

Und auch auf andere Länder schauen deutsche Politiker, wenn sie beschreiben wollen, wie ein digitales Deutschland einmal aussehen sollte: auf Dänemark, wo die Menschen ebenfalls fast alles über das Internet erledigen können. Auf Kanada, das früh in Künstliche Intelligenz (KI) investiert hat und Wissenschaft und Wirtschaft dabei erfolgreich zusammenbringt. Und auf Taiwan, wo eine Hackerin Digitalministerin ist und Bürger Projekte einreichen können, um staatliche Abläufe zu verbessern.

Es sind Vorbilder, von denen Deutschland sehr weit entfernt zu sein scheint. Noch immer nerven hier Funklöcher, sind viele Schulen chronisch unterversorgt mit W-Lan und Laptops, ist das digitale Bürgerportal weitgehend unbrauchbar. Aber was lässt sich wirklich von diesen Ländern lernen? Eignen sie sich als Modell – oder sind die Strukturen doch zu verschieden, ist ihr Vorsprung zu groß, als dass sich ihr Vorgehen heute noch in Deutschland nachahmen ließe?

Estland zum Beispiel konnte vor fast 30 Jahren quasi bei null beginnen. Und Zwischenschritte einfach auslassen. Es gab damals kein Grundbuchamt – so wurde es gleich papierlos aufgebaut. Nur eine von vielen Strukturen, die digital zu schaffen für das kleine Land schlicht leichter und kostengünstiger war, als eine analoge Verwaltung zu errichten. In Deutschland lässt sich das natürlich kaum kopieren. Dem steht schon der über Jahrzehnte gewachsene Föderalismus entgegen.

Auch, dass die estnische Regierung Klassenzimmer mit Computern ausstatten ließ, dass keine zehn Jahre nach der Unabhängigkeit alle Schulen ans Internet angeschlossen waren, war im Nachhinein ein sehr schlauer und entscheidender Schritt – aber einer, den man heute in Deutschland nicht mehr einfach so nachmachen kann. Dafür kann man aus den Folgen lernen: Eine neue Generation von Esten wuchs in dem Bewusstsein heran, sich selbstverständlich online zu bewegen – und übers Internet auch immer stärker mit dem Staat in Kontakt zu treten. Sie lernten, dass ihnen das im Alltag vieles erleichtert.

Dieser Spirit sei es, den sich Deutsche in Estland abschauen könnten, sagt Irene Bertschek, Leiterin des Forschungsbereichs Digitale Ökonomie am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Dass der Wandel Freiräume schafft – und kein Fluch ist, keine Belastung, die Ressourcen frisst.

„Wenn sich Prozesse verändern, ist es oft auch ein Problem, die Mitarbeitenden dafür zu gewinnen“, sagt Bertschek. Wer aber einmal die Vorteile gesehen habe, in einer guten Präsentation, durch Erfahrungsaustausch oder bei einer Studienfahrt vor Ort, ließe sich leichter anstecken. Bei der Digitalisierung sei es eben nicht damit getan, Geld in Technik zu stecken – auch in Menschen und Organisation müsse investiert werden.

Auch in Dänemark ist die Verwaltung weitgehend digitalisiert. Unternehmen müssen ebenso wie alle Dänen, wenn sie 15 Jahre alt werden, ein digitales Postfach nutzen, über das der Staat mit ihnen kommuniziert. Seit fast zehn Jahren haben die Menschen außerdem eine elektronische Identifikationsnummer, mit der sie Geld überweisen, Kindergeld beantragen und Arzttermine buchen. Ihre Daten sind dabei verknüpft, staatliche Stellen arbeiten mit Unternehmen, Banken und Versicherungen zusammen. Bedenken, die könnten die Informationen missbrauchen, haben trotzdem nur wenige: 97 Prozent der Dänen nutzen ihre digitale Identität regelmäßig.

„Es ist wichtig, dass der Staat den Nutzen von Digitalisierung immer wieder kommuniziert“, sagt ZEW-Wissenschaftlerin Bertschek. Da könne Dänemark als Vorbild für Deutschland gelten. Allerdings müssten die Menschen diesen Nutzen auch spüren oder anhand konkreter Beispiele erkennen können. Dann sänken die Bedenken, beispielsweise was den Datenschutz angeht: „Soziale Medien werden ja auch genutzt, weil sie so bequem sind.“

Experten fordern gezielte Unterstützung von KI-Standorten

Ob und wie man Daten nutzen und wie sie dabei schützen sollte, ist eine Frage, die Politiker auch bei der Künstlichen Intelligenz umtreibt. Denn je genauer Daten sind und je größer ihre Menge ist, desto besser werden auch die lernenden Systeme. Wenn es um KI geht, gilt Kanada oft als Land, von dem man lernen kann. Gerade, wenn es um Ethik in der KI geht.

Denn dominiert wird die Szene von den USA und China. In den USA sind die Daten vorwiegend privatisiert – Quasimonopolisten wie Facebook, Google und Amazon können große Mengen sammeln, auswerten und in der Folge ihre KI optimieren. In China dagegen gehören die Daten am Ende immer dem Staat – und das Regime in Peking kommt der perfekten Überwachung und Lenkung der Menschen ständig näher.

Es geht also um die Frage, wie sich andere Länder gegen diese beiden Mächte behaupten können. Kanada zehrt dabei davon, dass der Staat die KI nie aufgegeben hat: Als Ende der Achtzigerjahre die KI-Forschung einmal mehr als aussichtslos galt und viele Regierungen die Mittel kürzten, finanzierte Kanada einige Wissenschaftler weiter, vor allem in Toronto und Montreal – und regte so auch andere Forscher und Unternehmen an, die Technik weiter zu verfolgen.

Wie die digitale Verwaltung in Estland lässt sich das natürlich nicht einfach nachholen. Und natürlich gibt es auch in Deutschland renommierte KI-Forschungsinstitute. Was man sich von den Kanadiern dennoch abschauen kann: die „gezielte Unterstützung“, wie Autoren der Konrad-Adenauer-Stiftung in einer Studie schreiben. Also starke Standorte weiter zu fördern – das Gegenteil des Gießkannenprinzips.

Außerdem arbeitet der kanadische Staat eng mit Unternehmen zusammen. 2017 wurde das Vector Institute gegründet, eine Forschungseinrichtung, die Wissenschaft und Wirtschaft zusammenbringt. Die Idee: Wissenschaftler bringen ihre Kenntnisse ein, Unternehmen Geld und ihre Daten. Das Institut zieht weltweit führende Wissenschaftler an und hilft bei der Übersetzung von Forschung in Produkte.

Es dauere nur zwei Wochen, diesen KI-Forschern aus dem Ausland eine Arbeitserlaubnis auszustellen, zitieren die Studienautoren den kanadischen Innovationsminister. „Da der Kampf um KI-Talente härter wird, können andere Länder davon lernen“, urteilen sie.

Auch Taiwan setzt auf die Vernetzung von Unternehmen und Hochschulen. Vor allem aber fällt das Land durch seine Digitalministerin auf, Audrey Tang. Wollte man die perfekte Cyberressortchefin erschaffen, man käme wohl auf sie: Tang hat sich das Programmieren selbst beigebracht und mit 14 Jahren die Schule geschmissen.

Zwei Jahre später gründete sie ihre erste Firma, eine Suchmaschine für chinesische Liedtexte. Später arbeitete sie für die Stiftung hinter Wikipedia und für Apple. Nun soll Audrey Tang aus dem Hardwarehersteller Taiwan einen Standort machen, an dem die Software der Zukunft entwickelt wird. Und nebenher will sie die Demokratie mit digitalen Mitteln neu erfinden.

Wie das geht? Bei der Digitalkonferenz Republica stellte Tang im Mai selbst vor, was andere Digitalminister oder staatliche Stellen ihr nachmachen könnten – wobei sie nicht nach Berlin angereist war, sondern ihren Vortrag als Hologramm per Projektion hielt.

Im Zentrum des digitalen Taiwans stehen zwei Plattformen, über die die Bürger Projekte vorschlagen, über Gesetze diskutieren und sie mitgestalten können. Versammelt ein Vorschlag mindestens 5000 Befürworter, müssen die zuständigen Ministerien öffentlich darauf reagieren. So kam es unter anderem zu Reformen bei der Einkommensteuererklärung und Veränderungen für die medizinische Versorgung an abgelegenen Ortschaften.

Jedes Jahr organisiert die Digitalministerin außerdem einen Programmierwettbewerb. Die Gewinnersoftware wird in das staatliche Computersystem eingebaut. „Wir probieren hier Dinge aus“, sagte Tang der „Süddeutschen Zeitung“, „und sie funktionieren.“

Man stelle sich das mal vor.

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