
Berlin In Europa gilt Kanzlerin Angela Merkel als eiserne Verfechterin eines strikten Sparkurses, Wolfgang Schäuble als ihr harter Haushaltsminister. In Deutschland jedoch ist von Haushaltsdisziplin zwar oft die Rede, aber in der Realität wenig zu sehen. Der Haushalt 2012 und der Finanzplan für die Folgejahre, die der Bundestag in dieser Woche beschließt, enthalten nur noch Teile des einstigen schwarz-gelben Sparprogramms: Für den Ausfall der Finanztransaktionssteuer, von Teilen der Brennelementesteuer und von Minderausgaben der Bundeswehr hat die Koalition kein Ersatzprogramm geschaffen. Konsolidierend wirkt derzeit allein die gute Konjunktur: Höhere Steuereinnahmen und weniger Ausgaben für den Arbeitsmarkt entlasten den Etat.
Es sind dies die klassischen automatischen Stabilisatoren: Die Mehrausgaben aus einer Rezession schrumpfen im Aufschwung großenteils von selbst. Aktiv am Abbau der Neuverschuldung arbeitet die Koalition inzwischen nicht mehr, wie auch die Bundesbank bemängelt. Es gibt wieder Weihnachtsgeld für Beamte und demnächst Betreuungsgeld für Vollzeitmütter. Schon 2012 will der Bund mehr neue Schulden machen als 2011.
Ohne dies offensiv zu vertreten, richten sich Merkel und Schäuble augenscheinlich weniger nach der deutschen Schuldenbremse, die einen gleichmäßigen Abbau der jährlichen Neuverschuldung verlangt, als nach der jüngsten Verabredung der G20-Regierungschefs. Diese hatten beschlossen, dass die wenigen Länder, die in der Schuldenkrise noch über finanziellen Handlungsspielraum verfügen, für Wachstumsimpulse sorgen und ihre Binnenkonjunktur stärken sollen. In diesem Zusammenhang kann Merkel jetzt auf der internationalen Bühne die geplante Mini-Steuersenkung 2013 und die Milliarde mehr für Verkehrsinvestitionen als Erfolge melden.
Die Frage, woher denn noch Wachstum kommen soll, wenn die gesamte Euro-Zone die Ausgaben senkt, ist mit Blick auf die Konjunkturprognosen für die Euro-Zone mehr als berechtigt. Doch die Antwort, die Merkel auf diese Frage gibt, ist nicht überzeugend. Sie lautet: Wer ohnehin tief in der Rezession steckt, soll noch weniger ausgeben. Und wer einen Aufschwung genießt, soll diesen noch befeuern. Dies verkehrt die Lehren für Konjunkturpolitik in ihr Gegenteil, nach denen der Staat Wachstumsimpulse im Abschwung setzen und den Aufschwung zum Schuldenabbau nutzen sollte.
Die notleidenden Südländer brauchen direkte Wachstumsprogramme
Und es ist wenig wahrscheinlich, dass Merkels Maßnahmen die Deutschen ermutigen, jetzt so viel mehr Produkte aus Italien, Griechenland, Portugal und Spanien zu kaufen, dass dort Wachstum entsteht: Dafür ist der Umfang dieses passiven Programms viel zu gering. Auch eine deutsche Steuersenkung von sechs Milliarden Euro ist im Umfang zu gering, als dass sie einen europaweiten Nachfrageschub auslösen könnte. Die notleidenden Südländer der Euro-Zone brauchen direkte Wachstumsprogramme, die zielgenau auf das jeweilige Land zugeschnitten sind. Bei einigen von ihnen sollte Merkel auch die Frage zulassen, ab wann Sparprogramme nur die Rezession verstärken und keinen Stabilitätsgewinn mehr bringen: In Griechenland dürfte diese Situation schon eingetreten sein.
In Deutschland zeichnet sich ab, dass die Exportindustrie die europäische Rezession spüren wird und diese auf Deutschland überschwappen könnte. Für dieses Szenario verschlechtert die Koalition gerade die Ausgangslage, indem sie die Staatsfinanzen schwächt. Würde Schäuble die Neuverschuldung jetzt beherzt weiter senken, würde er sich größere finanzielle Handlungsspielräume für den nächsten Abschwung erschließen.
Denn ganz so kerngesund, wie die Märkte meinen, sind auch Deutschlands Staatsfinanzen nicht. Der Gesamtschuldenstand liegt mit 80 Prozent der Wirtschaftsleistung weit über der Grenze des Europäischen Stabilitätspakts von 60 Prozent. Sollten einige der Rettungsbürgschaften tatsächlich im Verlauf der Krise ausfallen, sollten die Zinsen steigen und sollte das Wachstum nachlassen, steht der Abbau dieses Schuldenbergs sehr schnell infrage. Auch die jährliche Neuverschuldung wird dann wieder steigen und das Musterland-Image schwinden: In den letzten Abschwungphasen hat Deutschland - egal, wer regierte - regelmäßig die Drei-Prozent-Defizitgrenze gerissen.
Bisher profitiert der Bund von der Euro-Krise durch extrem niedrige Zinsen, weil Deutschland bei internationalen Investoren als Hort finanzpolitischer Stabilität gilt. Dieses Vertrauen wird gefestigt, wie Merkel nicht müde wird zu betonen, wenn die Regierung Kostensenkungen nicht nur beschließt, sondern auch verwirklicht. Die Schuldenbremse hätte Schäuble in den guten Jahren seit 2010 dazu nutzen sollen, den ausgeglichenen Haushalt schon 2014 statt 2016 zu erreichen. Möglich wäre es gewesen. Doch diese Chance verpasst Schwarz-Gelb diese Woche im Bundestag.