Das Problem ist, auch abgesehen von dem Subsidiaritätsprinzip, ein grundsätzliches. Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm legt es in seinem Buch „Europa ja – aber welches?“ (2016) dar: In einem Nationalstaat kann das Parlament, wenn es mit Gerichtsurteilen unzufrieden ist, die zugrundeliegenden Gesetze ändern. Nur bei Verfassungsrecht ist diese Möglichkeit eingeschränkt. Das europäische Recht und der EuGH als dessen Wächter sind aber im Gegensatz zu nationalem Recht und nationalen Gerichten so gut wie nicht politisch korrigierbar. Denn der gesamte, viele Tausend Seiten umfassende Rechtsbestand der Europäischen Union, inklusive aller Richtlinien, hat durch frühe Entscheidungen des EuGH de facto Verfassungsrang gewonnen – und ist damit dem Einfluss der Politik weitestgehend entzogen.
Formal könnte ein Urteil des EuGH unwirksam gemacht werden, wenn die europäischen Verträge entsprechend geändert werden. Aber das setzt bei Vertragsverletzungsverfahren Einstimmigkeit aller Mitgliedstaaten voraus. Da aber die Urteile auf unterschiedliche Verhältnisse und Interessen in den verschiedenen Mitgliedsstaaten treffen, ist diese notwendige Einigkeit höchst unwahrscheinlich. Dazu kommen noch die langwierigen Ratifizierungsprozeduren in den nationalen Parlamenten oder gar Volksabstimmungen. Die demokratisch nicht legitimierten EU-Organe Kommission und EuGH sind also bei der Anwendung und Auslegung des EU-Rechts kaum zu korrigieren.
Der EuGH hat im Gegensatz zum deutschen Bundesverfassungsgericht gar nicht den Anspruch, nur neutraler „Hüter der Verträge“ zu sein. Er wird in der juristischen Fachliteratur meist als „Motor der Integration“ angesehen – und dem widerspricht man in Luxemburg auch nicht. Es entspricht dem Selbstbild des Gerichts, das seit seiner Gründung 1952 viele Grundsätze des Gemeinschaftsrechts durch Urteile selbst geschaffen hat: zum Beispiel den Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht, den Grundsatz der Haftung des Mitgliedsstaats bei Nichtumsetzung von EU-Richtlinien (wie im Falle des Hamburger Kraftwerks) und die Deutung der Grundfreiheiten.
Die fünf Szenarien der EU-Kommission zur Zukunft Europas
Die EU der 27 verbleibenden Staaten würde sich weiter an ihren bisherigen Grundfesten orientierten. Dazu gehören etwa die Verteilung von Entscheidungskompetenzen zwischen den nationalen Regierungen und der übergeordneten EU-Ebene. Neue Probleme würden angegangen, wenn sie entstehen. Das Tempo, mit dem Einigungen gefunden würden, hinge dabei stark davon ab, wie schnell sich die Staaten untereinander auf gemeinsame Positionen verständigen könnten. In einigen Bereichen könnte dies zu Stillstand führen.
Die EU-Staaten konzentrieren sich nur noch auf den Binnenmarkt, vor allem auf den grenzüberschreitenden Warenverkehr. In anderen Bereichen werden keine gemeinsamen Lösungen mehr gesucht, die Regierungen können individuell Entscheidungen treffen. Ihre Zusammenarbeit organisieren die Staaten bilateral untereinander und je nach Interessenlage. Für jede neue EU-Regelung werden zwei bestehende zurückgezogen. Die EU als Ganzes wird in zahlreichen internationalen Organisationen nicht mehr vertreten sein.
Im Grundsatz arbeitet die EU weiter wie bislang, es müssen aber nicht mehr alle Staaten bei Allem mitmachen. Stattdessen bekommt eine Reihe von Staaten die Möglichkeit, in einzelnen Bereichen, etwa bei der Verteidigung oder bei Sozialem, enger zusammenarbeiten. In der Praxis liefe dies auf ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten hinaus. Im Ansatz - etwa bei den 19 Staaten, die sich den Euro als Gemeinschaftswährung gegeben haben - gibt es das bereits.
Die EU würde sich nicht mehr um eine große Bandbreite an Themen kümmern. Gemeinschaftsregelungen sollten demnach nur noch in einigen als wichtig identifizierten Bereichen gefunden werden. Welche das sein könnten, ist offen. In den ausgewählten Politikfeldern würde die EU aber mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet, so dass Ergebnisse schneller und effizienter erzielt werden könnten.
Diese Modell stellt eine Art Vereinigte Staaten von Europa dar. Die 27 Länder einigen sich darauf, mehr Entscheidungsgewalt aus den Hauptstädten abzugeben und Beschlüsse gemeinsam zu treffen. Grundlage hierfür ist die Annahme, dass weder die EU in ihrer bestehenden Form, noch isoliert handelnde europäische Staaten den weltweiten Herausforderungen gewachsen sind. In der Folge könnten Gemeinschaftsentscheidungen deutlich schneller getroffen und umgesetzt werden. In Teilen der Bevölkerung, die der EU die Rechtmäßigkeit absprechen oder finden, dass den Nationalstaaten bereits zu viel Macht abhanden gekommen ist, dürfte das aber Unmut auslösen, hieß es in dem Papier.
„Mit seiner Rechtsprechung verändert der EuGH Richtung und Geschwindigkeit der europäischen Integration“, schreibt der Soziologe Martin Höpner. Die Richter in Luxemburg betrieben „faktisch Integrationspolitik“. Höpner sieht das sehr kritisch. Er sorgt sich vor allem um die Aushebelung sozialer Rechte in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten, wie sie etwa im Falle der Mitbestimmung droht.
Wie ist das von dem politischen Ziel der europäischen Integration geprägte „aktivistische“ Selbstverständnis der Richter in Luxemburg zu erklären? Einerseits ist natürlich jeder, der in einer Organisation Karriere macht, daran interessiert deren Einfluss und damit auch den eigenen zu stärken. Höpner und andere Soziologen kommen allerdings zu dem Schluss, dass noch etwas Entscheidendes hinzukommt: nämlich, „dass dem europäischen Rechtsdiskurs ein normativer, visionärer Impetus innewohnt.“ Salopper könnte man sagen: Europarechtler – und aus denen rekrutieren sich nun einmal die von den Nationalstaaten bestellten Richter des EuGH – sind integrationsfreundliche Überzeugungstäter. Höppner fordert angesichts der Tendenz der EuGH-Richter zur „Usurpation von Zuständigkeiten“ und zur „Radikalisierung der Binnenmarktintegration“ die Einführung einer politischer Kontrolle des Luxemburger Gerichts. Doch der politische Wille dazu, der naturgemäß nur von einer starken Koalition von Mitgliedsstaaten kommen kann, fehlt bislang.