
Mit dem bärtigen Mann auf der Bühne kann Veronika Kayser nichts anfangen. „Europa neu denken.“, liest sie einen seiner Slogans vor. „Und was will er dann hier?“, fragt sie dann. Für Martin Schulz sind das schlechte Nachrichten. Denn er ist der bärtige Mann, um ihn geht es heute, auf den SPD-Plakaten in Dortmunds Innenstadt ist er fast omnipräsent – aber offenbar ist er noch nicht bis zu allen durchgedrungen.
Auf der Bühne hinter Schulz flattern zaghaft vier Flaggen in der Brise. Auf dreien prangt das Sternen-Emblem der Europäischen Union, auf einer Schwarz-Rot-Gold. Die Botschaft ist eindeutig: Europa steht heute im Vordergrund, nicht Deutschland, nicht Dortmund. Für die europäischen Sozialdemokraten ist Schulz die Speerspitze dieser Botschaft, der richtige Mann um sie rüberzubringen. Und das macht er auf dem ganzen Kontinent. Am Mittwoch redete er in Belfast, am Donnerstag machte er Wahlkampf und Selfies in Warschau. In knapp drei Wochen will Schulz sich zum neuen EU-Kommissionspräsidenten wählen lassen – und dann „Europa reformieren, Europa vom Kopf auf die Füße zu stellen.“ Ein Europa, dessen Politik er selbst seit zwanzig Jahren mitgestaltet, mittlerweile sogar als selbstbewusster und kantiger Präsident des Europäischen Parlaments.
Schnell kommt Schulz auf sein erstes zentrales Anliegen zu sprechen: Transparenz und Bürokratieabbau. Europapolitik soll nachvollziehbar und greifbar werden. Mit dieser Europa-Wahl soll es schon anfangen: Der erste Kommissionspräsident wolle er werden, so Schulz, der „dank Eurer Stimmen und keiner Hinterzimmer-Klüngeleien ernannt wird“. Ein wichtiger Punkt, denn für viele EU-Bürger sind Brüssel und seine Entscheidungen tatsächlich weit weg und kaum nachzuvollziehen. Das Interesse an der EU-Politik sinkt stetig, die Beteiligung bei der letzen Europa-Wahl lag unter 45 Prozent. Auch die EU-Skepsis hat, nicht zuletzt durch das Erstarken rechtpopulistischer Parteien wie der französischen „Front National“ oder niederländischen „Partei für die Freiheit“, in den letzten Monaten stark zugenommen.
Aber ganz so einfach wie Schulz die neue Transparenz ausmalt ist sie dann doch nicht. Mit ihrer Stimme wählen die EU-Bürger, anders als es bei ihm klingt, nicht den Kommissionspräsidenten direkt, sondern „nur“ die Mehrheitsverhältnisse in einem anderen EU-Organ, dem EU-Parlament. Wer anschließend Präsident der mächtigeren und aktiveren Kommission wird, entscheiden in erster Linie die Staats- und Regierungschefs.
Selbst wenn Schulz und die europäischen Sozialdemokraten einen herausragenden Wahlsieg einfahren, ist Schulz noch lange nicht Kommissionspräsident. Ob sich die Mehrheit der 28 EU-Länder zu einem zweiten, starken deutschen Akteur in Europa neben Angela Merkel durchringen kann, ist fraglich. Zumal die Kommissionspräsidenten bisher traditionell politische Erfahrung auf höchster Ebene mitbrachten. Der amtierende Präsident war Premierminister in Portugal, sein Vorgänger Prodi Ministerpräsident in Italien. Damit kann Martin Schulz nicht aufwarten, er war Bürgermeister in Würselen bei Aachen. Ein Umstand, den Hannelore Kraft, die sozialdemokratische Ministerpräsidentin NRWs, als Gewinn sieht: „Martin Schulz hat den Kontakt zur Basis nicht verloren.“