Am besten die Fragen im Detail studieren. Denn der beschriebene Zusammenhang verlöre einen Teil seines Schreckens, wenn die Gesamtschau der beantworteten Thesen tatsächlich einen sauberen Vergleich mit den Parteiprogrammen ermöglichte. Daran jedoch weckt genau diese Detailanalyse große Zweifel. Zum einen ist das das Problem der Kategorie „neutral“. Denn die Zählweise des Wahl-O-Maten basiert auf dem Konzept der ideologischen Abstände: Liegen Partei und Wähler auf dem Drei-Felder-Kontinuum „ Ja – neutral – nein“ auf dem gleichen Punkt, gilt das als volle Übereinstimmung (100 Prozent), sind sie zwei Felder voneinander entfernt, wird dies als kompletter Gegensatz (0 Prozent) aufgefasst. Liegen sie auf benachbarten Feldern, wird dies zumindest als Teil-Übereinstimmung (50 Prozent) verstanden. Wenn eine Partei also besonders oft das Feld „neutral“ angibt, hat sie eine Mindestübereinstimmung sicher, da jedes Feld zumindest benachbart ist. Von diesem Effekt hat bei den vergangenen Wahlen vor allem die Piratenpartei profitiert. Für die Europawahl fällt der Effekt recht gering aus, da von den relevanten Parteien (Parlamentsmitglieder plus AfD und Piratenpartei) keine Partei bei mehr als sechs Thesen (SPD) die Kategorie „neutral “ besetzt.
Infos zum Wahl-O-Mat
Der Wahl-O-Mat wurde erstmalig 2002 zur Bundestagswahl eingesetzt und von der Zentrale für Politische Bildung entwickelt. Nach und nach übernahmen auch die Landeszentralen das Tool, das Voting Advice Application (VAA) genannt wird.
Der Wahl-O-Mat ist eine Applikation, die ausschließlich politische Positionen beziehungsweise Sachfragen, in den Vordergrund stellt: Zwischen 30 und 40 Thesen zu politischen Fragen, die im Wahlkampf eine Rolle spielen, werden präsentiert.
64,4 Prozent der Befragten bejahen die Aussage, dass der Wahl-O-Mat ihnen dabei geholfen habe, die Unterschiede zwischen den Parteien klarer werden zu lassen. Fast die Hälfte der Befragten (48,1 Prozent) bestätigt, dass der Wahl-O-Mat sie auf bundespolitische Themen aufmerksam gemacht habe, die den Wahl-O-Mat-Usern in ihrer Entscheidungsfindung zuvor nicht präsent waren.
Viele Wahl-O-Mat-Nutzer (70,5 Prozent) geben an, dass sie über das Wahl-O-Mat-Ergebnis mit anderen sprechen werden. 52,1 Prozent der Wahl-O-Mat-Nutzer sagen, dass sie sich im Anschluss an das Spielen des Wahl-O-Mat weiter politisch informieren werden. Eine entsprechend hohe Klickzahlen auf weiterführenden Dossiers zu den Themen legen nahe, dass sie das tatsächlich tun.
Wahl-O-Mat-Nutzer sind jünger sind als die Online-Gemeinde und damit deutlich jünger als die deutsche Bevölkerung. 38,4 Prozent geben an, unter 30 Jahre alt zu sein. Die Wahl-O-Mat-Nutzer sind zudem formal hoch gebildet: Rund 45 Prozent der Befragten verfügen über einen Hochschulabschluss oder sind im Begriff, diesen zu erwerben; der Anteil derjenigen mit formal niedriger Bildung ist gering; weniger als ein Drittel gibt an, einen Hauptschulabschluss/Mittlere Reife zu besitzen oder anzustreben.
Nur 7,1 Prozent der Befragten gaben an, dass der Wahl-O-Mat sie motiviert habe, tatsächlich an der Bundestagswahl teilzunehmen, obwohl sie dies nicht vorgehabt hatten. Und obgleich die Hälfte der Befragten äußert, dass der Wahl-O-Mat ihnen bei der Wahlentscheidung geholfen habe (46,1 Prozent), sagt nur ein geringer Teil der Befragten (rund acht Prozent), dass sie ihre Wahlabsicht aufgrund der Wahl-O-Mat-Nutzung "voraussichtlich" ändern werden. Ob dies tatsächlich geschieht, kann wiederum nicht nachgehalten werden. Die Frageformulierung legt nahe, dass der reale Anteil deutlich niedriger liegt.
Stefan Marschall 2011/Bundeszentrale für politische Bildung/Landeszentralen für politische Bildung
Ähnlich problematisch sind die Konsens-Thesen. Bei insgesamt neun der 38 Fragen geben alle genannten Parteien die gleiche Antwort oder zeigen sich neutral, bei acht weiteren weicht nur jeweils eine Partei ab. Wirklich kontrovers ist also gerade einmal gut die Hälfte aller Thesen. Die Konsens-Thesen hingegen dienen offenbar eher der Extremismus-Prävention als der Meinungsbildung. Denn an dieser Stelle hatte der Wahl-O-Mat lange eine Schwäche: Für radikale Parteien, die vor allem über eine Kernthese („Ausländer raus“; „Rente ab 18“) wahrgenommen werden, war es relativ einfach, sich in dem Ranking nach oben zu befördern. Bei allen Themen, die nichts mit ihrer Kernthese zu tun hatten, gaben sie Mainstreamantworten. So blieben ein oder zwei abweichende Thesen, die in der Gesamtabrechnung aber nicht ins Gewicht fielen. Am Ende legten die Zustimmungswerte dann beispielsweise die Interpretation nahe: Sieh an, so schlimm kann die NPD ja doch nicht sein. Je mehr Konsens-Thesen es gibt, bei denen radikale Parteien ausscheren müssen, desto geringer wird dieser Effekt.
Die unschöne Nebenwirkung ist jedoch, dass die anderen Parteien umso näher zusammenrücken. Für das Endergebnis bedeutet das: Am Ende sind Kleinigkeiten ausschlaggebend, Thesen, die dem Wähler gar nicht besonders wichtig sind. Das lässt sich auch durch die angebotene individuelle Schwerpunktsetzung – einzelne Thesen können doppelt gewichtet werden – nicht verhindern, da der Effekt dieser Gewichtung zu gering ist.