Exklusive Zahlen zum Dieselskandal Tausende VW-Verfahren enden ohne Urteil

Dieselskandal: VW-Verfahren enden ohne Urteil Quelle: dpa

Exklusive Zahlen zu Klagen deutscher Verbraucher gegen Volkswagen zeigen das Ausmaß des Dieselskandals. Die Daten offenbaren, wie Gerichte an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen – und, wie VW die Zahl der Urteile gering hält.

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Deutsche Diesel-Besitzer warten weiterhin auf ein höchstrichterliches Urteil im Rahmen des Abgasskandals. Ihre Hoffnung: dass es grundsätzlich regelt, welche Rechte ihnen in Deutschland als Verbraucher zustehen, in deren Autos eine Abschalteinrichtung installiert war.

Doch trotz Zigtausender Zivilverfahren in Deutschland landen nur Einzelfälle als Berufungs- oder Revisionsverfahren vor Oberlandesgerichten und dem Bundesgerichtshof.

„Volkswagen scheint um jeden Preis eine OLG-Rechtsprechung verhindern zu wollen“, teilt die Kanzlei Gansel aus Berlin mit. „Lieber trägt VW die Kosten eines Vergleichs, als dass von der OLG-Sprechung eine Signalwirkung ausgeht.“

von Thomas Stölzel, Martin Seiwert, Stefan Hajek

Eine Umfrage der WirtschaftsWoche bei deutschen Großkanzleien hat ergeben, dass sie Ende 2018 etwa 27.000 Volkswagen-Kunden vor Gericht vertraten. Volkswagen selbst spricht sogar von 40.300 Einzelklagen, die in Deutschland anhängig sind. Im letzten Quartalsbericht von VW zum dritten Quartal 2018 lag diese Zahl noch bei 25.500.

Dazu zählen auch die Musterfeststellungsklagen vom Rechtedienstleister Myright, der gut 37.000 Kunden vertritt, und des Verbraucherzentralen Bundesverbands, der sich nach aktuellem Stand 401.000 Kunden angeschlossen haben.

Nun zeigen Recherchen der WirtschaftsWoche, dass auch an deutschen Oberlandesgerichten tausende Verfahren mit Beteiligung des Volkswagen-Konzerns anhängig sind.

Aus Rückmeldungen aller deutschen Oberlandesgerichte lassen sich mehr als 4800 Verfahren identifizieren, an denen VW beteiligt ist oder war. Dass all diese Verfahren in direktem Bezug zum Abgasskandal stehen, ließ sich in den Datenbanken der Gerichte zwar nicht recherchieren. Da an vielen Gerichten vor 2015 aber kein einziges Verfahren mit Beteiligung von Volkswagen anhängig war, kann ein Bezug zum Dieselskandal angenommen werden.

Genauere Angaben zu den Verfahren konnten die Gerichte meist nicht machen. Einige berichten, die Vielzahl der VW-Verfahren ließe es nicht mehr zu, alle Fälle manuell zu erfassen und auszuwerten. Gerichtsvertreter empfinden die Situation als „unbefriedigend.“

Volkswagen selbst bestätigt die Größenordnung der Verfahrenszahl. Auf Anfrage teilte der Konzern mit, dass 4678 Verfahren zum Abgasskandal an Oberlandesgerichten anhängig sind.

Volkswagen nannte auf Anfrage 21 OLG-Verfahren, die mit einem ein Urteil endeten – alle gingen zugunsten von Volkswagen oder betroffener Autohändler aus. Die gleiche Tendenz bestätigen auch die Oberlandesgerichte.

Sie weisen aber darauf hin, dass viele dieser Urteile als Sonderfälle zu betrachten sind. Entscheidungen würden oft nicht beurteilen, ob ein Mangel vorgelegen habe und welche Ansprüche den Käufern daraus entstehen könnten.

So zitiert das Oberlandesgericht München aus einem Urteil: „Der erworbene Wagen [hatte] nicht die vertraglich vorausgesetzte Beschaffenheit“, weshalb „ein Mangel gegeben ist.“ Der Käufer konnte seinen Rücktritt vom Kaufvertrag aber deshalb nicht durchsetzen, weil er zunächst eine Nachbesserung seines Wagens hätte fordern müssen.

Dass überhaupt erst in 21 Fällen ein Urteil an den Oberlandesgerichten gesprochen wurde, liegt wohl auch an der hohen Zahl an Verfahren, die zurückgenommen wurden. Nach Aussagen der Gerichte oft kurz vor dem ersten Verhandlungstermin.

„Bei tausenden OLG-Verfahren würde man normalerweise eine viel höhere Zahl an Urteilen erwarten“, sagt ein Rechtsexperte.

Die Strategie geht nicht in allen Fällen auf

Volkswagen beziffert die Zahl der beendeten Verfahren an Oberlandesgerichten auf 3981. Zieht man 40 Beschlüsse und 21 Urteile ab, bleiben 3920 zurückgenommene Verfahren. 

Gründe für die Rücknahmen müssen die Prozessbeteiligten den Gerichten nicht offenlegen. Endet eine Berufung oder ein Revisionsverfahren vorzeitig, deutet das aber darauf hin, dass sich die Parteien mit einem Vergleich außergerichtlich geeinigt haben.

„Zurückgenommen heißt ja nicht von VW zurückgenommen, sondern dass diese Verfahren vermutlich in einen Vergleich mündeten“, sagt Rechtsanwalt Marco Rogert der Düsseldorfer Kanzlei Rogert & Ulbrich, die deutschlandweit VW-Kunden im Dieselskandal vertritt.

„Die hohe Zahl der Rücknahmen bei Verfahren vor den diversen Oberlandesgerichten beruht darauf, dass VW mit vielen Klägern Vergleiche schließt, um Prozessniederlagen vor den Oberlandesgerichten zu vermeiden“, sagt Wolf von Bernuth, Rechtsanwalt und Partner in der Kanzlei Hausfeld, die auch die Musterverfahren von Myright in Deutschland führt.

„Diese Strategie geht aber nicht in allen Fällen auf“, sagt von Bernuth. Das zeige der jüngst bekannt gewordene Beschluss des OLG Köln vom 03. Januar 2019. In diesem Verfahren habe das OLG Köln die Berufung von VW als „offensichtlich unbegründet“ zurückgewiesen.

Bislang schafften es erst drei Abgas-Verfahren bis zur höchsten Instanz am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Selbst diese endeten meist vorzeitig.

In Karlsruhe sollte am 8. Januar 2019 erstmals zum Abgasskandal verhandelt werden. Das Verfahren (VIII ZR 78/18) wurde kurz vor dem Termin aber zurückgenommen.

Nun bestätigte der Bundesgerichtshof auf Anfrage der WirtschaftsWoche, dass auch ein zweites Verfahren bereits im September 2018 zurückgenommen wurde (VIII ZR 149/18).

Beim Bundesgerichtshof ist somit aktuell nur noch ein Verfahren mit Bezug zum Dieselskandal anhängig (VIII ZR 225/17). Es soll am 27. Februar verhandelt werden.

Der Kläger fordert eine Ersatzlieferung für seinen VW Tiguan. Damit hatte er bislang weder beim Landgericht Bayreuth noch beim Oberlandesgericht Bamberg Erfolg – weil das betroffene Modell nicht mehr hergestellt wird. Laut Oberlandesgericht sei die Lieferung eines mangelfreien und gleichwertigen Ersatzfahrzeuges im Neuzustand somit unmöglich.

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