In regelmäßigen Abständen wird die Höhe des deutschen Leistungsbilanzüberschusses kritisiert. Tatsächlich weist das Abbild der deutschen Handelsströme im internationalen Vergleich einen ungewöhnlich hohen Überschuss aus. Dieser Überschuss ist ein Zeichen für eine leistungsfähige Exportwirtschaft, aber auch ein Zeichen dafür, dass die Binnenwirtschaft im Vergleich zum Export zu schwach ist.
Die Folge des hohen Leistungsbilanzüberschusses ist eine hohe Ersparnis. Der Konsum und die Investitionen im Inland sind zu gering. Ein großer Teil der Ersparnis wird darüber hinaus im Ausland investiert. Auf diese Weise deckt die sehr positive Entwicklung der Leistungsbilanz die strukturellen Schwächen der deutschen Wirtschaft auf. Es wird hierzulande zu wenig für die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft getan.
Das Rezept gegen den hohen Leistungsbilanzüberschuss ist auch relativ klar: Höherer privater Konsum, höhere Investitionen und ein besseres Investitionsklima. Der zurzeit hohe Überschuss der Leistungsbilanz verschwindet in den nächsten Jahren von alleine, wenn die Zahl der Rentner deutlich zunimmt. Jedoch sollte man schon jetzt die Weichen stellen, damit Deutschland auch in Zukunft eine leistungsfähige Wirtschaftsstruktur aufweisen kann.
Trotz der eher schleppenden internationalen Konjunktur läuft der deutsche Export auf recht hohen Touren: Nach einer etwas schwächeren Phase im zweiten Halbjahr 2015 haben sich die Ausfuhren in den ersten Monaten dieses Jahres wieder erholt und im März sogar ihr historisches Rekordhoch vom Juli vergangenen Jahres nur knapp verfehlt.
Gute Daten, viel Kritik
Doch die Freude über die gute Außenhandelsentwicklung ist leider nicht ganz ungetrübt. Denn es scheint: Je besser die Daten, desto mehr internationale Kritik rufen sie hervor. Im Zentrum der Diskussion stehen dabei die Überschüsse in der deutschen Handels- und Leistungsbilanz, die beide im vergangenen Jahr auf neue Rekordhöhen angestiegen sind. Den Deutschen wird häufig vorgeworfen, zu wenig zu konsumieren und zu investieren und stattdessen lieber zu sparen. Damit würden sie es insbesondere den europäischen Nachbarn unnötig schwer machen, mehr Waren nach Deutschland zu verkaufen und davon wirtschaftlich zu profitieren.
Was ist dran an der Kritik? Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss wird sich 2016 voraussichtlich auf rund acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) belaufen. Das ist im internationalen Vergleich tatsächlich eine sehr hohe Quote. Aktuell spielt eine Rolle, dass die Euroabwertung der vergangenen Jahre den Exporten Aufwind gibt und zusätzlich die gesunkenen Ölpreise den Importwert senken. Der Leistungsbilanzüberschuss gegenüber anderen Euroländern ist zwar seit 2013 ebenfalls wieder gestiegen, weil sich die Konjunktur im Euroraum allmählich erholt, er ist aber immer noch deutlich niedriger als vor der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise.
Es gibt für den hohen deutschen Leistungsbilanzüberschuss keine einfache Erklärung, sondern ein ganzes Bündel von Ursachen. Neben vorübergehenden Einflüssen wie Wechselkurseffekten und niedrigen Rohstoffpreisen spielen auch fundamentalere Faktoren eine Rolle. Zum Beispiel: der demografische Wandel, das sich ausweitende Produktivitätsgefälle zwischen dem verarbeitenden Gewerbe und dem Dienstleistungssektor sowie eine starke Zunahme des Nettoauslandsvermögens und der damit einhergehenden Einnahmen. Der große Überschuss ist teilweise auch auf die Umkehr der Ersparnis-/ Investitionsbilanz im Unternehmens- und im Staatssektor zurückzuführen. Denn sowohl Staat als auch Unternehmen sind in Deutschland heute Netto-Sparer, das sah vor gut zehn Jahren noch anders aus.
Mehr Binnennachfrage, mehr Dienstleistungen
Die bemerkenswerte Zunahme der Netto-Ersparnis des Unternehmenssektors ist eine Folge des verhaltenen Wachstums der Investitionen (ohne Wohnungsbau), das nicht mit dem Anstieg der Gewinne schritthielt. Die Ersparnis der privaten Haushalte bewegt sich ebenfalls auf hohem Niveau. Die Haushalte haben schon seit einigen Jahren auf die Senkung der gesetzlichen Rentenansprüche mit einer Erhöhung des Vorsorgesparens reagiert und lassen sich bislang auch vom extrem niedrigen Zinsniveau nicht abschrecken.
In ihrem jüngsten Bericht empfiehlt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Deutschland Maßnahmen für eine Stärkung der Binnennachfrage und Erhöhung der Attraktivität des Dienstleistungssektors, um auf eine Abnahme des Leistungsbilanzüberschusses hinzuwirken. Davon erhofft sie sich weltweit positive Ausstrahlungseffekte und eine Unterstützung der notwendigen Anpassungen in Defizitländern, die so mit geringeren Kosten in Form von Produktionseinbußen verbunden wären.
Empfohlen werden Maßnahmen zur Ankurbelung der Investitionstätigkeit, zum Beispiel Regulierungsreformen, die die Marktzutrittsschranken im Dienstleistungssektor verringern. Mit der Beseitigung von Hindernissen für die Vollzeitbeschäftigung von Frauen würden Armutsrisiken reduziert, was einen Rückgang des Vorsorgesparens begünstigen könnte. Rentenreformen, die die Lebensarbeitszeit verlängern, würden ebenfalls zu einer geringeren jährlichen Sparquote führen, da dadurch die Zahl der Jahre steigen würde, während der die Haushalte ihre Alterseinkommen absichern können.
Gegen diese wirtschaftspolitischen Empfehlungen ist kaum etwas einzuwenden. Zu bezweifeln ist aber, dass sie kurzfristig wirken werden. Nur auf mittlere und längere Sicht sind einige Faktoren auszumachen, die auf einen niedrigeren Überschuss in der Leistungsbilanz hinwirken werden. So ist das Sparverhalten der privaten Haushalte aus unserer Sicht keineswegs in Stein gemeißelt.
Das herrschende Niedrigzinsumfeld ist eine schwere Belastung für die Sparer, und je länger es anhält, desto stärker wird sein Einfluss sein. In Umfragen wie beispielsweise dem GfK-Konsumklima ist ablesbar, dass die Sparneigung der privaten Haushalte in den vergangenen Monaten auf den tiefsten Stand seit mehr als 30 Jahren gesunken ist.
Daneben werden die ungünstigen demografischen Trends bald ihre Schatten vorauswerfen: In den nächsten 15 Jahren erreichen mit den geburtenstarken Jahrgängen rund 20 Millionen Menschen in Deutschland das Rentenalter. Nach Umfragen will ein hoher Prozentsatz der älteren Arbeitnehmer sogar gerne vorzeitig in Rente gehen oder nur mit reduzierter Arbeitszeit bis zum Rentenalter im Job bleiben. Nur gut jeder Vierte will bis zur Rente voll erwerbsfähig bleiben.
Daraus dürfte sich eine substantielle Veränderung des Sparverhaltens ergeben: Eine große Zahl von erwerbstätigen Sparern wird Jahr für Jahr ins Lager der „Entsparer“ wechseln, oft sicherlich schon einige Jahre vor Beginn des eigentlichen „Ruhestands“. Damit wird sich der Sparüberschuss in Deutschland sukzessive reduzieren und sein „Spiegelbild“, der Leistungsbilanzüberschuss, wird abgebaut werden. So wie die Demografie den Aufbau der hohen deutschen Überschüsse in den vergangenen Jahren begünstigt hat, so wird sie in einigen Jahren auch für deren Abbau sorgen.