Fall Jan Böhmermann Lässt sich Angela Merkel von Recep Tayyip Erdogan erpressen?

Recep Tayyip Erdogan geht gegen den deutschen Satiriker Jan Böhmermann vor und die Bundesregierung muss zustimmen oder widersprechen. Hinter dem bizarren Vorgang steckt die Frage, ob der türkische Staatspräsident deutsche Politik bestimmen kann.

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Erdogan und Merkel Quelle: dpa, Montage

Jan Böhmermann geht nach all dem Trubel jetzt erstmal in Deckung. Seinen nächsten Auftritt im ZDF hat der Satiriker, der mittlerweile sogar Polizeischutz erhält, abgesagt. Die Bundesregierung kann hingegen nicht einfach von der Bildfläche verschwinden. Derzeit prüfen Experten vom Justiz- und Außenministerium sowie Bundeskanzleramt, ob sie dem Verlangen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan nachkommen sollen, damit ein Strafverfahren gegen Böhmermann eingeleitet werden kann.

Wie auch immer sich die Bundesregierung entscheidet, eine der beiden Seiten wird erbost sein. Entweder lehnt Kanzlerin Angela Merkel es ab, dass gegen Böhmermann nach Paragraph 103 des Strafgesetzbuches ermittelt werden kann - im Volksmund ist das der Majestätsbeleidigungsparagraph.

Dann dürfte Erdogan Berlin vorhalten, die Bundesregierung würde seine Rechte missachten. Oder Merkel lässt die Justiz ihre Arbeit machen, was ihr die Opposition und kritische Öffentlichkeit als Einknicken gegenüber Erdogan auslegen dürfte.

Dahinter verbirgt sich der Vorwurf, Deutschland sei zu abhängig von der Türkei geworden. Erdogan könne Merkel erpressen, weil sie ihn braucht, um die Flüchtlingskrise unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich nimmt die Türkei seit kurzem nahezu alle Flüchtlinge zurück, die über Griechenland die EU erreichen.

„Erdogan will den Eindruck erwecken, Deutschland erpressen zu können“

Doch stimmt das? Kuscht Merkel vor Erdogan? Lässt sie deutsche Grundwerte hinten runterfallen, um in der Flüchtlingspolitik keine Probleme zu bekommen?

Wissenswertes über die Türkei

Aus Sicht des Politik- und Rechtswissenschaftlers Dietmar Herz von der Universität Erfurt möchte der türkische Präsident diese Wahrnehmung erzeugen. „Erdogan will den Eindruck erwecken, Deutschland erpressen zu können“, sagt Herz. Das sei ein Signal an die türkischen Bürger, dass er über Einfluss verfügt und die deutsche Kanzlerin zum Handeln zwingen könne.

Und tatsächlich war es falsch von Merkel, öffentlich zu betonen, das Gedicht sei „bewusst verletzend“ gewesen. Zu Recht hatten viele gefragt, ob für Merkel die Interessen und Gefühle Erdogans womöglich schwerer wiegen als die Meinungs-, Presse- oder Kunstfreiheit in Deutschland.

Die Kunstfreiheit ist nahezu schrankenlos

Herz glaubt, dass Merkel nun keine Wahl hat und die Ermittlungen zulassen muss. „Böhmermann hat den türkischen Staatspräsidenten eindeutig beleidigt“, erklärt Herz. „Nur die Justiz kann entscheiden, ob er sich strafbar gemacht hat oder ob sein Gedicht von der Meinungs- oder Kunstfreiheit gedeckt ist.“

Der Erfurter Wissenschaftler ist überzeugt, dass die Angelegenheit letztlich gut ausgehen wird. Zwar kenne die Meinungs- und Pressefreiheit Grenzen, die Kunstfreiheit sei aber nahezu schrankenlos. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein deutsches Gericht die Kunstfreiheit einschränkt“, sagt Herz.

Wenn es so käme, stünde Erdogan schlecht da – zumindest in den Augen der deutschen Öffentlichkeit. In seiner Heimat könnte ihm die Angelegenheit aber nützlich sein, schließlich hat er dort Legitimitätsprobleme. „Er stellt sich als starken Mann dar und braucht nach innen immer wieder Rechtfertigungen dafür“, sagt Herz.

Das sagen Türken in Deutschland zum Fall Böhmermann

Roy Karadag von der Universität Bremen sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Streit um Böhmermann und die neue gemeinsame Flüchtlingspolitik von EU und Türkei. „Erdogan hat kein Interesse, dass der Flüchtlingsdeal platzt“; sagt der Türkei-Experte. Der Staatspräsident brauche die EU und Deutschland mindestens genauso sehr wie die Europäer ihn brauchen.

Die Freiheit der Meinung interessiert Erdogan nicht

Übersicht der Kritik an Erdogan

Und tatsächlich: Ob Visa-Freiheit oder Hilfszahlungen in Höhe von sechs Milliarden Euro – die Türkei lässt sich ihre Unterstützung in der Flüchtlingsfrage einiges kosten. Das bringt Merkel, die auf europäischer Seite der entscheidende Akteur in der Sache ist, in eine ebenso starke Verhandlungsposition wie Erdogan. „Keiner kann seine Macht voll durchsetzen, beide Seiten brauchen sich gegenseitig“, sagt Herz.

Und wie geht es jetzt weiter? Erdogans Rechtsanwalt in Deutschland hat angekündigt, notfalls bis zur letzten Instanz gehen zu wollen. Der Rechtsstreit um Böhmermann könnte also Monate dauern. Karadag rechnet auch künftig mit Spannungen zwischen Berlin und Ankara. „Beim Thema Pressefreiheit kommen Deutschland und die Türkei nicht mehr zusammen.“

Dietmar Herz meint, Erdogan werde „nicht den Hauch von Rücksicht auf die Europäer nehmen.“ Denn: „Die Freiheit von Meinung, Presse und Kunst ist ihm egal.“

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