Jan Böhmermann geht nach all dem Trubel jetzt erstmal in Deckung. Seinen nächsten Auftritt im ZDF hat der Satiriker, der mittlerweile sogar Polizeischutz erhält, abgesagt. Die Bundesregierung kann hingegen nicht einfach von der Bildfläche verschwinden. Derzeit prüfen Experten vom Justiz- und Außenministerium sowie Bundeskanzleramt, ob sie dem Verlangen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan nachkommen sollen, damit ein Strafverfahren gegen Böhmermann eingeleitet werden kann.
Wie auch immer sich die Bundesregierung entscheidet, eine der beiden Seiten wird erbost sein. Entweder lehnt Kanzlerin Angela Merkel es ab, dass gegen Böhmermann nach Paragraph 103 des Strafgesetzbuches ermittelt werden kann - im Volksmund ist das der Majestätsbeleidigungsparagraph.
Dann dürfte Erdogan Berlin vorhalten, die Bundesregierung würde seine Rechte missachten. Oder Merkel lässt die Justiz ihre Arbeit machen, was ihr die Opposition und kritische Öffentlichkeit als Einknicken gegenüber Erdogan auslegen dürfte.
Dahinter verbirgt sich der Vorwurf, Deutschland sei zu abhängig von der Türkei geworden. Erdogan könne Merkel erpressen, weil sie ihn braucht, um die Flüchtlingskrise unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich nimmt die Türkei seit kurzem nahezu alle Flüchtlinge zurück, die über Griechenland die EU erreichen.
„Erdogan will den Eindruck erwecken, Deutschland erpressen zu können“
Doch stimmt das? Kuscht Merkel vor Erdogan? Lässt sie deutsche Grundwerte hinten runterfallen, um in der Flüchtlingspolitik keine Probleme zu bekommen?
Wissenswertes über die Türkei
In der Türkei leben rund 77 Millionen Einwohner. Das Bevölkerungswachstum beträgt 1,1 Prozent. 82 Prozent der türkischen Bevölkerung ist jünger als 54.
Das nominale BIP beträgt 767,1 Milliarden US-Dollar. Bis 2015 wird es auf 820,09 Milliarden ansteigen, prognostizieren Analysten. Zum Vergleich: Das deutsche BIP betrug 2013 3,51 Billionen US-Dollar. Die stärksten Wirtschaftszweige der Türkei sind das verarbeitende Gewerbe, Verkehr und Nachrichtenübermittlung, Handel und Land- und Forstwirtschaft, die jeweils rund ein Zehntel zur BIP-Entstehung beitragen.
Die Türkei konnte in den letzten zehn Jahren (2004 bis 2013) mit einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von unglaublich 4,9 Prozent aufwarten. Die Türkei musste nach der Finanzkrise 2009 eine starke Rezession hinnehmen: Die Wirtschaft schrumpfte um 4,83 Prozent. Nachdem sie in den beiden Folgejahren jeweils um die neun Prozent wuchs, war das Wachstum zuletzt eher enttäuschend. 2012 wuchs sie nur um 2,17 Prozent.
Die Staatsverschuldung der Türkei beträgt 36,4 Prozent des BIP.
Die Inflationsrate liegt 2014 bei 7,8 Prozent. Im folgenden Jahr soll sie Prognosen zufolge auf 6,5 Prozent fallen.
2013 lag die Arbeitslosenquote bei 9,7 Prozent. Bis 2015 soll sie auf 10,6 Prozent ansteigen.
2011 lag der monatliche Durchschnittslohn bei rund 700 Euro – bis 2013 stieg er auf rund 900 Euro an.
Aus Sicht des Politik- und Rechtswissenschaftlers Dietmar Herz von der Universität Erfurt möchte der türkische Präsident diese Wahrnehmung erzeugen. „Erdogan will den Eindruck erwecken, Deutschland erpressen zu können“, sagt Herz. Das sei ein Signal an die türkischen Bürger, dass er über Einfluss verfügt und die deutsche Kanzlerin zum Handeln zwingen könne.
Und tatsächlich war es falsch von Merkel, öffentlich zu betonen, das Gedicht sei „bewusst verletzend“ gewesen. Zu Recht hatten viele gefragt, ob für Merkel die Interessen und Gefühle Erdogans womöglich schwerer wiegen als die Meinungs-, Presse- oder Kunstfreiheit in Deutschland.