Christian Linder spricht gerne übers Scheitern – auch über sein persönliches. Anfang März ist der FDP-Chef zu Gast bei der „Fuckup-Night“ an der Goethe-Universität in Frankfurt. Hier tauschen sich gestrauchelte Gründer darüber aus, was sie künftig besser machen wollen. „Ich habe zwei Unternehmen gegründet“, erzählt Lindner im reichlich vollen Hörsaal, „das eine war erfolgreich, das andere lehrreich.“ Der Spruch zieht immer, die Pointe sitzt, das Publikum lacht. Christian Lindner, das juvenile Kommunikationstalent. 1997 gründete er eine Werbeagentur, im Jahr 2000 dann Moomax, ein Internetunternehmen, das Onlineshopping vereinfachen sollte. Kurze Zeit später platzte die Dotcom-Blase. Moomax machte schlapp. Und Lindner in der Politik mobil.
Klar, dass er die Geschichte seiner unternehmerischen Havarie heute ausbeutet. Der Schiffbruch ist eine beliebte Leitmetapher des liberalen Geistes: Man geht nicht an ihm zugrunde, sondern deutet ihn zur Erfahrung einer abenteuerreichen Biografie um – und macht sich auf zu neuen Ufern.
Ergebnisse der FDP bei Bundestagswahlen
1949 startet die FDP mit 11,9 Prozent der Wählerstimmen.
Quelle: Statista/Bundeswahlleiter 2015
Immer noch fast 10 Prozent der Wähler können sich für die Liberalen begeistern: 9,5 Prozent.
1957 bekam die FDP einen Stimmenanteil von 7,7 Prozent.
12,8 Prozent der Wähler stimmen für die FDP. Das ist das zweitbeste Wahlergebnis für die Partei auf Bundesebene überhaupt.
Das gleiche Ergebnis wie 12 Jahre zuvor: 9,5 Prozent der Stimmen entfallen auf die Freien Demokraten.
Acht Jahre nach dem zweitbesten Wahlergebnis auf Bundesebene fährt die FDP das zweitschlechteste ein: Nur 5,8 Prozent der Wähler stimmen für die Liberalen.
Die FDP kommt auf einen Stimmenanteil von 8,5 Prozent.
Die FDP bekommt 7,9 Prozent der Stimmen.
Fünfmal knackte die FDP (Stand: 2015) bei Bundestagswahlen bisher die 10-Prozent-Marke: 1949, 1961, 1980 (10,6 Prozent) und 2009.
1983 bekommt die FDP 7 Prozent der Stimmen.
Die Liberalen bekommen 9,1 Prozent der Stimmen.
11,7 Prozent der Wählerstimmen gehen an die Freien Demokraten.
Die FDP kommt auf 6,9 Prozent der Stimmen.
Leichte Verluste: 6,2 Prozent der Wähler stimmen für die Liberalen.
Immerhin 7,4 Prozent der Wählerstimmen kann die FDP holen.
Die FDP schnellt hoch auf 9,8 Prozent.
Die Bundestagswahl 2009: Vorläufiger Höhepunkt der FDP. 14,6 Prozent der Wähler stimmen für sie.
Nach dem Höhe- der Tiefpunkt: Die FDP stürzt ab, schafft die Fünf-Prozent-Hürde nicht (4,8 Prozent) - zum ersten Mal seit 1949 sitzen die Liberalen nicht im Bundestag.
Lindner annonciert am Beispiel seiner selbst „Ärmel hoch“-Optimismus und dauernden Gründergeist, Lebensmut und Gestaltungswillen: Wer fleißig ist und an sich glaubt, der scheitert nicht, der kommt zurück. Natürlich meint Lindner damit nicht nur sich selbst, sondern auch seine Partei. Auch die ist schließlich mal gescheitert, ziemlich grandios sogar: Vor zweieinhalb Jahren flog die FDP aus dem Bundestag, danach setzte es saftige Niederlagen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen – und mancher Beobachter sprach schon lustvoll vom Ende des organisierten Liberalismus in Deutschland. Doch irgendwie, mit Promi-Chic, Neo-Design und rhetorischem Wahlkampfelan gelang den Lindner-Liberalen die Trendwende: zunächst noch etwas laut, oberflächlich und dezidiert feminin in Hamburg und Bremen, vor drei Wochen dann mit kühlem Kalkül und viel Parteizentralen-Verstand in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz.
Ist die Zeit des Scheiterns also vorbei – und die FDP zurück im politischen Machtspiel? Oder sind die Liberalen nur Zweit-Profiteure einer Flüchtlingspolitik, die der Protestpartei AfD viele Wähler beschert hat – und der PROtestpartei FDP immerhin einige? Wie viel Kraft verdanken die Lindner-Liberalen bereits einem erweiterten Freiheitsbegriff, der mehr meint als die Protektion der Begüterten und die schiere Opposition gegen grünlinke Bevormunder? Und vor allem: Was braucht die FDP jetzt mit Blick auf die Bundestagswahlen 2017: eine Phase der oppositionellen Profilschärfung, um die Reinheit der liberalen Idee zu pflegen – oder eine Regierungsbeteiligung in Rheinland-Pfalz, um mit Ministerämtern die mediale Präsenz zu erhöhen – und um an der Seite von Rot-Grün einer jederzeit machtopportunistischen CDU zu bedeuten: Auch wir können anders? Auf drei Fragen vor allem müssen die Liberalen in den nächsten Wochen Antworten finden:
1. Will die FDP als liberale Partei Erfolge feiern - oder als eine Art AfD light?
Christian Lindner verspricht sich von den Wahlerfolgen „Rückenwind für die Bundestagswahl“, das ist alles – und er ist klug genug, jede Siegerpose zu vermeiden, die der FDP als Rückkehr zum Hochmut ausgelegt werden könnte. Auch hält Lindner so glaubhaft wie wortgewaltig Distanz zur AfD. Andererseits sind die Liberalen – zumal in Abwesenheit einer bürgerlichen Opposition im Bundestag – programmatisch aufgerufen, die Euro- und Flüchtlingspolitik der Bundesregierung scharf zu kritisieren: Viele Wähler, denen das völkische Geraune der AfD fremd ist und die der Bundeskanzlerin dennoch einen Denkzettel verpassen wollten, haben (mal wieder) FDP gewählt.
Lindner widerstand dem Populismus, ein politisches Meisterstück
Zur Erinnerung: Es gab eine Zeit, in der so mancher Libertäre unter den Liberalen die FDP zur Anti-Euro-Gruppe umbauen wollte – vor drei, vier Jahren, als man bei „Krise“ noch an Zypern, Griechenland und immer neue Rettungspakete dachte. Wäre es etwa nach dem früheren FDP-Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler gegangen, hätte die FDP damals mit der Losung „ordnungspolitische Reinheit vor europapolitischer Genscher-Nostalgie“ das Entstehen der AfD verhindern müssen. Die mitregierende Rösler-FDP jedoch lavierte, entschied sich zur Unentschiedenheit – und machte die AfD stark.
In der sogenannten Flüchtlingskrise wiederum drohte die FDP von der AfD marginalisiert zu werden. Dass Lindner dennoch der Versuchung des Populismus widerstand und sich beharrlich weigerte, Stimmen am rechten Rand abzugreifen, ist ihm daher nicht nur hoch anzurechnen, sondern auch sein erstes großes, politisches Meisterstück. Lindner markierte die FDP inmitten einer rettungslos aufgeheizten Debatte als kühle Stimme der oppositionellen Vernunft: „pro Einwanderung, pro Integration und pro Sicherung der europäischen Außengrenzen“, resümiert FDP-Vorstand Karl-Heinz Paqué zufrieden – „und zwar aus eigener Kraft und nicht zu Erdoğans Gnaden“.
Tatsächlich führte der FDP-Chef einen beinharten Wahlkampf gegen Angela Merkel, gegen ihre „gesinnungsethischen Träumereien“ und gegen den „deutschen Sonderweg“. Aber er ließ dabei jederzeit erkennen, dass sein Wahlkampf sich nicht gegen Flüchtlinge, sondern gegen die Bundesregierung richtete. Jederzeit? Sagen wir: fast immer. Aus Sorge, im Strudel der Debatte unterzugehen, und im Kampf um mediale Aufmerksamkeit erlag auch Lindner zuweilen einer illiberalen Rhetorik der Abschottung, der Staatsräson und des nationalen Alleingangs. Die brisante Frage der Abgrenzung zur AfD ist also noch lange nicht erledigt für die FDP. Aber sie ist vorerst gelungen: Die FDP, so die Botschaft, begreift Deutschland weiterhin als Zuwanderungsland für Fachkräfte und Zufluchtsstätte für Schutzsuchende. Nur braucht es dafür endlich ein Einwanderungsgesetz und kontrollierte Verfahren. Der Unterschied zur AfD in einem Satz? Für Lindner ganz simpel: „Die AfD mobilisiert Abstiegsängste, wir mobilisieren Chancen.“ Die Nachwahlbefragungen geben ihm recht: Während für AfD-Wähler die Flüchtlingspolitik im Mittelpunkt stand, schenkten FDP-Wähler der Lindner-Partei vor allem wegen der Themen „Wirtschaft“ und „Arbeit“ Vertrauen; die Flüchtlingspolitik nahm in der Reihe der Gründe für die Wahlentscheidung nur die vierte Stelle ein.
2. Geht es der FDP um Portenz und Posten - oder um Positionen und Prinzipien?
Das größte Problem der FDP ist ihre mangelnde Sichtbarkeit, ihre fehlende institutionelle Verankerung, ihr prekäres Personaltableau. Die Liberalen sind – von Lindner abgesehen – in Talkshows und Zeitschrifteninterviews praktisch nicht existent. Die FDP stellt keine Bundespolitiker, keinen einzigen Landesminister. In Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg kann die Partei nun wieder Regierungsverantwortung übernehmen. Aber soll sie das auch? Marco Buschmann, Bundesgeschäftsführer und Lindner-Vertrauter, hält es für richtig, dass die Partei zögert. „Wir dürfen nie wieder den Eindruck erwecken, der FDP gehe es nur um Posten und Dienstwagen.“ Für Buschmann ist das eine der wichtigsten Lehren aus dem Bundestagswahl-Debakel 2013.
Ausgerechnet in Baden-Württemberg allerdings scheint die FDP eine Riesenchance zu verspielen: Nirgends sonst sind die Grünen so wirtschaftsfreundlich, liberal und ideologiefern ... Nirgends sonst könnte eine Politik der moderaten Lösungen leichter gelingen als an der Seite von Ministerpräsident Winfried Kretschmann ... Nirgends sonst hat sich die CDU ihre Oppositionsrolle besser verdient ... – kurz: Nirgends sonst wäre eine Ampel aus Sicht der FDP plausibler. Doch als dritte Kraft an der Seite von Grün-Rot? Wenn es stimmt, dass „in einem Dreierbündnis eine klare liberale Handschrift“ erkennbar sein muss, so Karl-Heinz Paqué, dann haben die Liberalen allein in Rheinland-Pfalz eine Mitregierungsperspektive – als zweitstärkste Kraft vor halbierten Grünen. Doch die innerparteilichen Widerstände gegen eine Ampelregierung sind gewaltig. Hasso Mansfeld etwa, Unternehmensberater aus Bingen und liberaler Internetaktivist, „weiß nicht, ob ich das noch mittragen könnte“. Allein in der Fundamentalopposition gegen alle grün-moralische Gängelung, so Mansfeld, habe sich die FDP stabilisieren können. Opposition sei Pflicht, so Mansfeld.
Die FDP will dem Vulgärliberalismus abschwören
3. Mit welcher politischen Strategie strebt die FDP zurück in den Bundestag?
Die Planspiele im Thomas-Dehler-Haus sind bestechend einfach: Die FDP ist zurück in den Medien ... Die Journalisten sind der großen Koalition müde ... Viele Deutsche glauben wieder, dass es eine liberale Kraft im Bundestag braucht ... – und das alles übersetzt sich in Erfolge bei den kommenden Landtagswahlen in Berlin, im Saarland und in Schleswig-Holstein.
Aktuelle Umfragen zeigen: So kann es gehen. Der choreografische Höhepunkt der Erfolgsserie wäre dann die Landtagswahl im Mai 2017 in Nordrhein-Westfalen; eine Art Krönung des Spitzenkandidaten Christian Lindner, der als FDP-Fraktionschef im Düsseldorfer Landtag seine Bühne hat und auf ein zweistelliges Ergebnis spekuliert: „Wenn die FDP unter meiner Führung ein starkes Ergebnis erhält“, so sagt er es selbst, „ist das ein Signal für die ganze Bundesrepublik.“
Landtagswahlergebnisse der FDP seit 2013
Die Landtagswahl in Niedersachsen im Januar 2013 wurde als einer der letzten Stimmungstests vor der Bundestagswahl im September angesehen. Bewährt hat sich die Wahl als Stimmungsbarometer für die FDP jedoch nicht: Sie holte in Niedersachsen 9,9 Prozent der Stimmen - bei der Bundestagswahl kam sie nicht über die Fünf-Prozent-Hürde.
Quelle: Statista 2015/Landeswahlleiter(in) (diverse)/Wikipedia
Eine Woche vor der Wahl, bei der die FDP aus dem Bundestag flog, kündigte sich das Debakel in Bayern schon an: Hier holten die Liberalen nur 3,3 Prozent.
Gleicher Tag, unterschiedliche Wahlergebnisse: Während die Bundes-FDP ihre Sachen packen musste, schafften es die Freien Demokraten in Hessen, fünf Prozent der Wähler für sich zu gewinnen.
Knapp ein Jahr nach der Bundestagswahl bekommt die FDP in Sachsen die nächste Ohrfeige: Sie bekommt 3,8 Prozent der Wählerstimmen - weniger als die rechtsextreme NDP (4,9 Prozent).
Vorläufiger Tiefpunkt der FDP: Die Landtagswahl in Brandenburg. 1,5 Prozent der Stimmen holten die Liberalen dort nur.
2,5 Prozent der Wähler entschieden sich 2014 in Thüringen für die Freien Demokraten.
Ein großer Sprung: Bei der Hamburg-Wahl holte die FDP 7,4 Prozent der Stimmen.
Auch bei der zweiten Landtagswahl 2015 in Bremen konnte die FDP sich freuen: 6,6 Prozent stimmten für die Liberalen.
Lindner will die FDP zunächst in NRW zum Erfolg führen und anschließend im Bund als Spitzenkandidat antreten, so viel steht fest. Er glaubt an seine landespolitische Zugkraft – und hat seine bundespolitische Zukunft klar im Blick.
Das ist kühn, aber auch dringend nötig, denn Parteistratege Buschmann glaubt, dass die FDP nur reüssieren kann, wenn sie Haltung zeigt. Auch inhaltlich. Die Partei will keinen „Vulgärliberalismus“ repräsentieren, nicht wider den Staat und die Grünen polemisieren, sondern als optimistische Kraft wahrgenommen werden – als Partei, die den Menschen was zutraut. Lindner spricht von einer „Can-do-Mentalität“, einem „Update“ für Deutschland, einer „inhaltlichen Aktualisierung“ der FDP.
Die Partei habe jetzt wieder ein „konsequenteres Verständnis von Marktwirtschaft“ – und ist damit anschlussfähig für alle Koalitionen. So wollen die Liberalen beispielsweise staatliche Bankenrettungen verbieten – eine Position, die in allen Parteien Anhänger findet.
Gleichwohl, einer Ampelkoalition im Bund erteilt der FDP-Chef vorerst eine klare Absage: „Es gibt so gut wie keine inhaltlichen Schnittmengen.“ Lindner und Toni Hofreiter, der Chef der Grünen-Fraktion, gemeinsam in einer Regierung? Nein, sagt Lindner, „daraus könnte nichts werden“.
So gerne er im Moment auch über das Straucheln spricht – ins Scheitern verliebt sei er nicht.