FDP-Dreikönigstreffen Schicksalsjahr eines Parteichefs: Christian Lindners schwerste Rede

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Die feine Dialektik der FDP-Orientierungsdebatte

Mehr als nur eine Frage des rhetorischen Stils

Was nach einer Diskussion um Stil und Eskalationsfreude klingt, bekommt mehr Bedeutung, wenn man zwei Aspekte berücksichtigt. Die berühmte politische Mitte sortiert sich neu, je nachdem, wen die Union zum Kanzlerkandidaten kürt. Wähler der liberalen Merkel-CDU könnten eine neue politische Heimat suchen. Hier braucht die FDP ein ansprechendes Angebot. Pappkameraden-Populismus schreckt dieses Milieu eher ab.

Erschwerend kommt aber hinzu, und das ist der zweite Aspekt, dass FDP-Basis und liberale Stammwählerschaft in Teilen konservativer ticken als von der Parteispitze und ihren Inhalten vorgesehen. Solche Unterschiede gibt es in allen Parteien, keine Frage. Aber man muss die Bedürfnisse der Basis eben schon auch bedienen. Da kann ein bisschen Schärfe gegen diese grünen Verbotspolitiker ohne gesunden Menschenverstand nicht schaden.

Wie gesagt, diese Debatte ist zwar nicht neu. Sie zeigt sich nicht nur in der Kommunikation, sondern auch in Sachfragen in der Fraktion. Aber sie wird deutlicher. Im Frühjahr 2020 etwa schob sich die zweite Reihe der Partei ein wenig nach vorne: allen voran Innenpolitiker Konstantin Kuhle und Arbeitsmarktexperte Johannes Vogel. Schon damals war neben viel Anerkennung bei Leitartiklern zu lesen, die beiden seien „typische Produkte der Berliner Blase“, für die bedrängte Mittelschicht jedoch kein überzeugendes Angebot. Als sei schon ein Grünlinker, wer in Prenzlauer Berg gerne mal vegan essen geht.

Und dennoch wächst mit jedem Gastbeitrag aus der Zwei-Mann-Denkfabrik Kuhle & Vogel bei anderen in der Partei der Frust, da spielten sich zwei allzu offensiv als neokluge, liberale Avantgarde auf. Erst vor ein paar Tagen haben sich die beiden in der „Welt“ ein Gespenst vorgenommen, das derzeit in der FDP umgeht: den Zeitgeist. Wer hinter jeder frischen Idee und jedem Angebot an neue Wählergruppen eine „Anbiederung an den Zeitgeist“ sehe, heißt es da, könne den Wandel nicht gestalten. „Er trocknet habituell und thematisch aus.“



Der Text ist eigentlich eine Replik auf einen Artikel in der NZZ, in dem die Autorin der FDP genau dieses Kuscheln mit dem Zeitgeist vorwirft. Er ist aber auch eine Reaktion auf eine Wortmeldung der Ex-Generalsekretärin Linda Teuteberg beim vergangenen Bundesparteitag. Sie warnte dort vor Tendenzen in „unserem Zeitgeist“, die nicht gut seien für die Freiheit. „Und denen müssen wir mutig entgegentreten.“ Teuteberg bezog sich damit auf eine genau gegenteilig zu verstehende Äußerung von Kuhle, ohne diesen namentlich zu erwähnen.

Eine Kurz-Intervention, über deren Motive in der Bundestagsfraktion in den vergangenen Monaten diskutiert wurde: von den einen mit Unverständnis kritisiert, von anderen wohlwollend bis zustimmend aufgenommen. Der „Spiegel“ hat diese Episode pünktlich zu Dreikönig noch einmal aufgearbeitet.

Die Dialektik liberaler Selbstbefassung

In ihrem aktuellen „Welt“-Artikel finden Vogel und Kuhle dann erneut die ihnen eigene Balance: Sie fassen ihre Argumente weit genug, dass sich jeder Liberale guten Gewissens hinter ihnen versammeln kann. Und setzen die Zwischentöne doch so pointiert, dass jeder in der Partei genau weiß, wer sich angesprochen fühlen sollte.

Die FDP sei nicht „liberal-konservativ“ oder „sozialliberal“ wie manche ihrer europäischen Schwesterparteien, schreiben Vogel und Kuhle, sie sei „schlichtweg liberal“. Wer will da schon dagegen argumentieren. Aber, das ist die feine Dialektik der FDP-Orientierungsdebatte: Je mehr sie die Einheit beschwören soll, umso deutlicher zeigt sich der trennende Bindestrich-Liberalismus dahinter.

Vor einem halben bis dreiviertel Jahr, als das Kemmerich-Desaster noch nicht verarbeitet und die Stunde der Exekutive nur schwer zu verdauen war, da ließen sich solche Gastbeiträge noch als Angriff auf die angeschlagene Parteiführung interpretieren. Inzwischen kann sich Lindner entspannt zurücklehnen – und darauf verweisen, wie gut eine gewisse geistige Lebendigkeit einer liberalen Partei doch zu Gesicht steht. 

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Man merkt das auch daran, dass sich die Akteure hinter ihm ganz offensichtlich mehr trauen. Natürlich müsse es in einer Partei „ein Zentrum geben“, sagte Luksic dem „Spiegel“. „Historisch aber war die FDP besonders stark, wenn auch Flügel sichtbar waren und konstruktiv Debatten geprägt haben.“ Vor gar nicht allzu langer Zeit war er noch vorsichtiger, Existenz und Mehrwert von Flügeln so selbstbewusst zu formulieren.

Und so wird das liberal-philosophische Richtungsscharmützelchen im Superwahljahr zwar als Grundbass weiterlaufen. Lindners Dreikönigsrede aber wird sie wie immer alle abholen, in sämtlichen Verästelungen der Partei, sei es noch so ungewohnt für ihn, im leeren Stuttgarter Opernhaus in eine Kamera zu predigen. Den Rest an Geschlossenheit erledigt der Wahlkampf.

Beispiel gefällig? Der einstige Euro-Rebell und libertäre Vordenker Frank Schäffler twitterte vor ein paar Tagen, er wünsche sich von seiner Partei einen Aufbruch zu Dreikönig: „Es muss deutlicher werden, dass die FDP DIE Partei für Marktwirtschaft, Recht und Freiheit ist.“ Konstantin Kuhle und Oliver Luksic drückten da beide auf den Gefällt-mir-Button. Na dann.

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