Finanzkraftvergleich Gesetzliche Kassen schwimmen im Geld

Noch nie gab es im deutschen Gesundheitssystem so hohe Rücklagen wie dieses Jahr. Doch viele gesetzliche Kassen bleiben vorsichtig und halten die Zusatzbeiträge stabil. Das Handelsblatt-Ranking der finanzstarken Kassen.

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Finanzkraftvergleich: Gesetzliche Kassen schwimmen im Geld Quelle: dpa

Berlin Die gesetzlichen Krankenkassen haben in den ersten drei Quartalen dieses Jahres einen Überschuss von 2,5 Milliarden Euro erzielt. Wenn es so weitergeht, könnten bis zum Jahresende drei Milliarden Euro mehr auf den Konten der Krankenkassen liegen als vor einem Jahr. Schon jetzt liegen die Finanzreserven der Kassen mit 18,5 Milliarden Euro auf Rekordniveau. Im Durchschnitt habe jede Krankenkasse eine Rücklage in Höhe einer Monatsausgabe, so das Bundesgesundheitsministerium. Sie liegt damit viermal so hoch wie gesetzlich vorgeschrieben. Für den noch amtierenden Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe kann es daraus nur eine Schlussfolgerung geben: Senkungen bei den Zusatzbeiträgen. Über deren Höhe können die Kassen nämlich anders als über den von Arbeitgebern und Versicherten zur Hälfte getragenen allgemeinen Beitragssatz von 14,6 Prozent selbst entscheiden. Darüber würden sich auch das Rekordhoch von 72,7 Millionen gesetzlich Versicherten freuen, so viele wie noch nie in Deutschland.

„Die Finanzreserven zeigen, dass es richtig war, den Experten im Schätzerkreis zu folgen und den durchschnittlichen Zusatzbeitragssatz abzusenken“, so Gröhe. „Denn mit den hohen Finanzreserven haben viele Krankenkassen gute Spielräume für hochwertige Leistungen bei attraktiven Beiträgen.“ Es liege nun in der Hand der einzelnen Kassen, ihre Spielräume auch zu nutzen, so Gröhe.

Auf jeden Fall sind die hohen Reserven ein bedeutender Grund dafür, dass beim Finanzkraftvergleich des Handelsblatts so viele Kassen mit „gut“ oder „sehr gut“ abschneiden. Unter den Kassen mit mehr als einer Million Versicherten führen die AOK Niedersachsen, die TK und die AOK plus das Feld an. Bei den kleineren sind dies die HKK, die Debeka BKK und die IKK gesund plus.

Vor allem die hohen Einnahmen führen dazu, dass die Kassen so abschneiden. Sie sind deutlich stärker gestiegen als im langjährigen Durchschnitt. Insgesamt legten sie in den ersten drei Quartalen gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 4,2 Prozent zu. Die beitragspflichtigen Löhne und anderen Einkommen der Versicherten stiegen sogar um 4,4 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.

Zugleich stiegen die Ausgaben langsamer, als von den Krankenkassen bei der Herbstschätzung von 2016 erwartet, nämlich nur um 3,8 statt 4,2 Prozent. Diese Annahme war aber dafür verantwortlich, dass viele Krankenkassen ihre Zusatzbeiträge eher zu hoch angesetzt haben – sie wollten vorsichtig sein. Gesundheitsminister Gröhe hat deshalb gegen das Votum der Vertreter der Krankenkassen im Schätzerkreis beim Bundesversicherungsamt den durchschnittlichen Zusatzbeitrag aller Krankenkassen von 1,1 auf ein Prozent gesenkt.

Das bedeutet aber nicht, dass nun alle Kassen Spielraum hätten, ihre Zusatzbeiträge entsprechend zurückzufahren. Der Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen sorgt nämlich dafür, dass nicht bei allen Kassen die gleichen Zuweisungen pro Versicherten aus dem Gesundheitsfonds ankommen. Dies spiegelt sich auch in den Überschüssen der einzelnen Kassenarten wider. Zwar sorgen die tendenziell eher hohen Zusatzbeiträge dafür, dass in den ersten drei Quartalen keine Kassenart mehr rote Zahlen schreibt. Doch die Unterschiede sind dennoch gewaltig.

So vereinen die Ortskrankenkassen mit 1,1 Milliarden Euro 44 Prozent des Überschusses von 2,5 Milliarden auf sich. Ihr Marktanteil liegt allerdings bei 35 Prozent. Die Ersatzkassen, zu denen auch die großen Anbieter TK, Barmer und DAK gehören, kamen auf 925 Millionen Euro bei einem Marktanteil von 38 Prozent, die Betriebskrankenkassen auf 211 Millionen Euro (17 Prozent Marktanteil) und die Innungskrankenkassen auf 126 Millionen Euro (7,7 Prozent Marktanteil). Vor allem die Betriebskrankenkassen profitierten somit weit unterdurchschnittlich von der insgesamt guten Finanzentwicklung.

Diese Rechnung sähe ganz anders aus, würde man die unterschiedlichen Zusatzbeiträge der verschiedenen Kassenarten berücksichtigen. Bei der AOK lag der durchschnittliche Zusatzbeitrag in diesem Jahr mit 0,99 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt aller Kassen von 1,1 Prozent. Alle anderen Kassenarten forderten in diesem Jahr im Durchschnitt mehr als 1,1 Prozent. Bei den Betriebskrankenkassen lag der durchschnittliche Zusatzbeitrag bei 1,13 Prozent, bei den Innungskrankenkassen bei 1,25 Prozent, bei den Ersatzkassen bei 1,14 Prozent und bei der Bundesknappschaft bei 1,3 Prozent. Die Spanne liegt zwischen 0,3 Prozent bei der AOK Sachen Anhalt und 1,7 Prozent, wie sie derzeit die Viaktiv in Nordrhein-Westfalen fordern muss, oder sogar 1,8 Prozent bei der BKK Vital.


Rund 15 Millionen Versicherte profitieren

Dabei bedeutet ein hoher Zusatzbeitrag nicht, dass die Kasse schlecht wirtschaftet. So führt die AOK Sachsen-Anhalt im Finanzkraftvergleich das Ranking an, obwohl sie sich mit einem Zusatzbeitrag von 0,3 Prozent begnügt. Grund für diesen Reichtum sind aber nicht besonders günstige Verwaltungsausgaben. Die liegen dort über dem Durchschnitt. Die Kasse profitiert schlicht davon, dass in ihrer Region das Angebot an Ärzten und Krankenhäusern deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegt. Da sich die Höhe der Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds an Durchschnittsausgaben orientiert, erhält die Kasse für jeden Versicherten mehr Geld, als sie am Ende für Diagnostik und Therapien ausgeben muss.

Im Verbreitungsgebiet der Viaktiv läuft es genau umgekehrt. In Nordrhein-Westfalen gibt es ein besonders dichtes Angebot von Krankenhäusern und Facharztpraxen. In der Folge liegen die Durchschnittsausgaben über dem Bundesdurchschnitt. Die Folge ist, dass die Viaktiv einen hohen Zusatzbeitrag nehmen muss, weil die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht ausreichen, um ihre Leistungsausgaben zu decken.

Seit Monaten wird daher unter den Krankenkassen heftig darüber gestritten, ob und in welcher Form der Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen weiterentwickelt werden muss. Denn die Benachteiligung von Kassen in Regionen mit einem besonders dichten Versorgungsangebot soll beseitigt werden. In der Theorie müssten die Krankenkassen eigentlich die Möglichkeit haben, ihre Ausgaben durch eine effizientere Auswahl von Leistungsanbietern zu beeinflussen. Tatsächlich sind die gesetzlichen Regelungen aber bis heute anders. So wird über das Angebot an Krankenhäusern letztlich von der jeweiligen Regierung des Bundeslands entschieden. Allen Krankenhäusern, die im Krankenhausplan eines Landes stehen, müssen die Kassen alle Leistungen bezahlen, die sie an Patienten erbringen. Gleichgültig, ob diese erforderlich sind oder die Qualität der Leistungen gut ist oder schlecht.

Auch deswegen werden in Deutschland viele gut bezahlte Leistungen besonders oft in Rechnung gestellt. Beispiel Rückenoperationen: Nach einer im Sommer veröffentlichten Studie der Bertelsmannstiftung stieg von 2007 bis 2015 die Zahl der Rücken-OPs von 452.000 auf 772.000. Das ist ein Anstieg um 71 Prozent. Dabei werden Eingriffe in einigen Regionen wesentlich häufiger durchgeführt als in anderen. So gibt es bei Versteifungs-OPs gravierende regionale Unterschiede. Bei Patienten im hessischen Landkreis Fulda werden 13-mal so viele Eingriffe vorgenommen wie im brandenburgischen Frankfurt/Oder. Mittlerweile gibt es regelrechte „OP-Hochburgen“. So entstand in Nord- und Osthessen sowie im angrenzenden Westthüringen ein Gebiet, in dem fast alle Stadt- und Landkreise vergleichsweise sehr hohe OP-Raten aufweisen.

Die Stiftung untersuchte auch, wie oft Patienten wegen der allgemeinen Diagnose „Rückenschmerzen“ im Krankenhaus aufgenommen wurden. Von 2007 bis 2015 erhöhten sich die Aufnahmen von 116.000 auf 200.000 um 73 Prozent. Während in Heidelberg nur 58 oder in Kiel 91 von 100.000 Menschen mit der Diagnose Rückenschmerzen ins Krankenhaus kommen, sind es im westfälischen Hamm 815 und in Osterode am Harz 919. Dabei wären die Klinikaufenthalte bei dieser Diagnose häufig vermeidbar. Der Besuch beim Orthopäden würde reichen. Die Vermutung liegt nahe, dass vor allem in Regionen mit vielen Krankenhäusern Rückenkranke besonders schnell in der Klinik landen.

Aber auch wenn es um die ärztliche Versorgung geht, haben die Kassen kaum Einfluss auf das Angebot. Jeder zur kassenärztlichen Versorgung zugelassene Mediziner hat Anspruch auf Vergütung. Die Kassen stehen dabei nicht im Wettbewerb. Vielmehr verhandeln sie gemeinsam auf Landesebene jährlich ein Budget, das nach den gesetzlichen Vorgaben immer steigen muss. Damit werden auch Überkapazitäten einfach fortgeschrieben.

Es wird daher darüber nachgedacht, Kassen mit Versicherten in Regionen mit besonders dichtem Leistungsangebot „Regionalzuschläge“ zu gewähren. Der Gesundheitsminister hat dazu eine Studie in Auftrag gegeben, die im April vorliegen soll. Solche Zuschläge würden Kassen helfen, die derzeit im Finanzkraftvergleich nicht ganz so gutabschneiden.

Die von Gröhe angekündigten Beitragssenkungen werden allerdings nicht für alle Versicherten kommen. Die meisten Kassen werden ihre Zusatzbeiträge aus Vorsorge für schlechtere Zeiten einfach stabil halten. Doch für jeden vierten Versicherten wird es günstiger. Nach Auswertungen des Internetportals Krankenkassen.net werden insgesamt 16 Kassen ihren Beitrag leicht senken. Davon sollen 14,8 Millionen Mitglieder profitieren. Rund 500.000 Versicherte müssen 2018 mehr bezahlen. Nur einige wenige Betriebskrankenkassen haben den Beitrag für 2018 noch nicht bekanntgegeben.

Viele Kassen, die derzeit um 0,1 Prozentpunkte unter dem Durchschnittsbeitrag von 1,1 Prozent liegen, wollen diesen Abstand beibehalten, wenn der Durchschnittssatz auf 1,0 Prozent sinkt. So hat TK-Chef Jens Baas eine Senkung von 1,0 auf 0,9 Prozent angekündigt. Die AOK-Nordwest senkt sogar von 1,1 auf 0,9 Prozent, um unter dem Durchschnitt zu liegen. Die spektakulärste Beitragssenkung dürfte es bei der AOK Bremen geben. Sie senkt den Zusatzbeitrag um 0,3 Punkte auf 0,8 Prozent. Dagegen sieht sich die im Finanzausgleich benachteiligte BKK VBU gezwungen, den Zusatzbeitrag von 0,9 auf 1,3 Prozent anzuheben.

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