Finanzpolitik Klares Konzept gegen kalte Progression

Finanzminister Christian Lindner Quelle: imago images

In der Diskussion um die Pläne von Finanzminister Christian Lindner gegen die kalte Progression geht alles durcheinander. Ordnung muss her – und Ordnungspolitik! Ein Gastbeitrag.

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Es ist kurios: Bisweilen sorgen die klügsten Detailuntersuchungen für eine komplette Desorientierung der politischen Debatte. So geschehen in dem jüngsten „Discussion Paper“ der Arbeitnehmerkammer Bremen. Thema: „Inflation und mögliche Entlastungswirkungen – Verteilungswirkungen eines Abbaus der kalten Progression“. Es untersucht, welche Einkommensgruppen unter unterschiedlichen Annahmen von Lindners Plänen profitiert, und zwar in absoluten Euro-Beträgen. Klar ist: Die Pläne sind im Detail noch gar nicht bekannt, aber dies ist der Studie kaum vorzuwerfen, denn sie schaut sich sorgfältig unterschiedliche Varianten der „Entlastung“ an.

Wichtigstes Szenario ist dabei die Standardvariante, alle sogenannten Tarifeckwerte um 6 Prozent zu erhöhen – und damit in etwa der Inflationsrate Rechnung zu tragen. Als Tarifeckwerte bezeichnet man jene tariflichen Sprungstellen, bei denen ein höherer Steuersatz auf den zusätzlich verdienten Euro einsetzt. Ergebnis: Alle Steuerzahler profitieren. Bis etwa 100.000 Euro Jahreseinkommen zunehmend, für 100.000 bis 200.000 in etwa konstant und für noch höhere Einkommen wieder zunehmend. Wegen dieses in Teilen progressiven, also ansteigenden Effektes der „Entlastung“, den die Autoren für unerwünscht halten, plädiert die Studie für einen (einkommensunabhängigen) Direkttransfer.

Dieser würde als Festbetrag nicht mit dem Einkommen ansteigen, sondern für alle Steuerzahler gleich ausfallen. Mit anderen Worten: Jeder würde beispielsweise 100 Euro ausgezahlt bekommen. Unabhängig davon, ob er vorher 500 oder 5000 Euro Steuern gezahlt hat. Offen bleibt allerdings, ob dieser Direkttransfer wie eine Tarifänderung auf Dauer, also Jahr für Jahr, gezahlt würde. Dies wäre als eine Art dauerhafte Ergänzung zur Einkommensbesteuerung völlig systemwidrig. Wenn der Betrag dagegen nur einmal ausgezahlt würde, würden die Menschen auch nur einmalig entlastet. Im nächsten Jahr würde die kalte Progression dann voll zuschlagen.

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Das Ziel heißt Steuergerechtigkeit

Soweit die Studie. Es gibt keinen Grund, an deren Rechnungen zu zweifeln. Das Problem liegt woanders. Es lautet: Die Studie beantwortet eine Frage, die sich angesichts der hohen Inflation gar nicht stellt. Oder genauer: Das Ziel des Finanzministers – und jeder Beseitigung einer kalten Progression – ist nicht eine „Entlastung“ nach Gutdünken der Politik.

Es geht vielmehr darum, die „heimliche“ Steuererhöhung durch die kalte Progression rückgängig zu machen. Also zu verhindern, dass Menschen einen höheren Anteil von Ihrem Einkommen als Steuern zahlen müssen, ohne dass dies politisch diskutiert und beschlossen wurde. Eigentlich sollte dies eine Selbstverständlichkeit sein!

Es geht also nicht um eine Entlastung, sondern um die Wiederherstellung einer Ausgangslage, unter der die Verteilungswirkung des Steuersystems real beabsichtigt war – und die sich durch die „kalte“, also nicht vom Gesetzgeber avisierte Progressionswirkung des Steuertarifs verändert hat. Es ist also die Korrektur einer Art „ungerechtfertigten Bereicherung des Fiskus durch Inflation“, und die bemisst sich nun einmal nach der realen Entwertung des Einkommens durch Inflation und gegebenenfalls dem (rein nominalen) Hineinwachsen der Steuerpflichtigen in höhere Progressionszonen durch höhere Nominallöhne. Dass im Zuge dessen der absolute Euro-Betrag dieser Art „Erstattung“ oder „Wiedergutmachung“ (nicht „Entlastung“!) mit dem Einkommen steigen kann, liegt in der Natur des progressiven Tarifs, der eben in Deutschland im Bereich des Mittelstands besonders scharf ansteigt und bei hohen Einkommen natürlich auch hoch bleibt. Bei sehr niedrigen Einkommen unterhalb der scharfen Progressionszone, die im Bereich des unteren Mittelstands einsetzt, ist dieser Effekt gering; bei der beachtlichen Zahl von Haushalten, die ohnehin keine Einkommensteuer zahlt, ist er dagegen null.

Es geht also um die Wiederherstellung der Steuergerechtigkeit, wie sie real geplant war und durch die inflationsbedingte kalte Progression torpediert wird. Idealerweise ließe sich diese Gerechtigkeit permanent herstellen, indem der Einkommensteuertarif komplett indexiert würde – durch die Bindung aller Tarifeckwerte an den Preisindex der Lebenshaltung. Lindners Pläne – wie sie auch immer konkret ausfallen – sind als erster Schritt in diese Richtung zu interpretieren. Die Schweiz hat ein solches System und ist gut damit gefahren. Es beendet ein für alle Mal das Eigeninteresse des Fiskus an der Inflation – ein riesiger Schritt in Richtung Stabilität.

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von Bert Losse

Lohnsteigerungen werden konfisziert

Die derzeitige Realität sieht anders aus. Schlimmer noch: Sollten wir auf Dauer in ein neues inflationäres Regime der Knappheitsökonomie hineinrutschen und auch die Lohnsteigerungen scharf zunehmen, dann wird der Progressionseffekt noch weiter verstärkt. Bruttolohn- und -gehaltserhöhungen – obgleich zum Großteil reine Kompensationen für Preissteigerungen – würden im Übergang von Brutto zu Netto zum Teil „weggesteuert“, auch dies nicht akzeptabel mit Blick auf die Steuergerechtigkeit. Nur reale Einkommenszuwächse im Zuge „echten“ Wirtschaftswachstums sollten tatsächlich der Progression unterliegen, denn genau so war es des Gesetzgebers Absicht bei Festlegung des Tarifs.

Nochmal: Es geht um Gerechtigkeit des Steuersystems, die durch die „kalte Progression“ zerstört wird. Wer weitere Entlastungsziele hat, muss sie mit ganz anderen Instrumenten verfolgen. Dies betrifft natürlich vor allem jene Gruppe von privaten Haushalten, die keine oder fast keine Einkommensteuer zahlen. Bei ihnen ist die Lage allerdings komplizierter, da sich in dieser Gruppe viele Transferempfänger sammeln, die im Rahmen unseres Sozialsystems ohnehin andere Kompensationen für gestiegene Kosten erhalten – zum Beispiel im Rahmen des ALG II die Warmmiete. Auch hier muss natürlich unter Maßgabe der Inflation neu kalkuliert werden, aber dies ist unabhängig von der Progressionsfrage des Steuersystems.

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Meilenstein der Ordnungspolitik

Fazit: Die Pläne des Finanzministers sind nicht nur richtig, sondern vielleicht auch der Einstieg in eine neue Welt der inflationsneutralen Besteuerung. Dies wäre ein gewaltiger Schritt nach vorne, ein Meilenstein der Ordnungspolitik. Er sollte nicht in einer kleinteiligen Verteilungsdiskussion zerredet werden.

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