Flüchtlinge Aus der Wüste ins Watt

Das Ende einer langen Flucht: Für eine syrische Familie ist eine Hallig hoch im Norden das neue Zuhause. Nach dem ersten Schock hat sie sich an das Leben im Wattenmeer gewöhnt – auch dank großer Hilfsbereitschaft.

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Der Syrer Ahmed Alsamiye (l.) und seine kleine Tochter Halasham und ihre nordfriesischen Gasteltern, Irina und Johann Petersen: „Die waren nach der Ankunft hier ziemlich entsetzt“. Quelle: dpa

Langeneß Die Sonne spiegelt sich über dem schleswig-holsteinischen Wattenmeer, Ahmeds Blick schweift vom Wohnzimmer in die Weite des Horizonts. Die Sonne spiegelt sich auf dem feuchten Schlick, die Nordsee glitzert an diesem Morgen. Nichts stört die flache Wiesennatur zwischen zwei Warften.

Seit November lebt der 32 Jahre alte Syrer mit seiner Familie auf Hallig Langeneß – 4000 Kilometer entfernt von seinem Heimatdorf in der Nähe der syrischen Grenze zum Libanon und zu Israel. Den Horizont konnte er dort nicht sehen. „Ich dachte, ich wäre am Ende der Welt angekommen“, sagt er über seine neue Heimat.

Keine Anonymität der Großstadt, kein Problemviertel. Auf Hallig Langeneß leben gerade einmal 100 Menschen. Das neue Heim der Familie ist eine 95 Quadratmeter große Ferienwohnung der Petersens – Meerblick inklusive aus allen Zimmern im ersten Geschoss des Wohnhauses. Direkt darunter wohnen die Petersens. „Als sie hier ankamen, fragten sie: Kommen da noch mehr?“, erinnert sich Irina Petersen an die Ankunft der Flüchtlinge.

In der großen Küche dampft das Wasser. Ahmeds Frau Iman bereitet syrischen Kaffee zu. Sie trägt Kopftuch, ist scheu, mag sich nicht fotografieren lassen. Gegensätze prallen aufeinander. Gleich an den ersten Tagen lernen die Syrer die Naturgewalten des Wattenmeers kennen. „Entweder war Sturm oder Regen oder einfach beides.“ Herbststürme peitschen über die Nordsee. Landunter. Das komplette Gegenteil zu ihrer eher gebirgigen Heimat. Vor allem die Dunkelheit bereitet den Flüchtlingen anfangs Probleme, wie sie sagen.

Knapp fünf Monate später hat sich die Familie auf Langeneß eingelebt. Die beiden Mädchen Fatma (6 Jahre) und Sham (4) besuchen die Halligschule beziehungsweise den Kindergarten, lernen jeden Tag mehr Deutsch. Die kleine Halasham (1) bleibt noch zu Hause. Im Sommer kommt Kind Nummer vier. „Ich Schule“, sagt Sham und klettert in das weiße Auto der Petersens. Vater Johann bringt die Kinder zur Halligschule. 18 Schüler aller Altersstufen werden dort von zwei Lehrern unterrichtet. Idealbedingungen für die Integration in eine neue Welt mit einer anderen Kultur, einer neuen Sprache.

Wenn sie im Garten vor dem Haus spielen, unterhalten sich die Kinder bereits auf Deutsch. „Wir reden einfach“, sagt Petersens Sohn Leo. Die Verständigung mit den Kleinen geht prima. „Wenn Fatma da ist, wird nicht gestritten – egal ob in der Schule oder zu Hause“, sagt Irina. Das kleine Mädchen mit dem langen dunklen Haar und den großen Augen hat auf der kleinen Hallig Eindruck bei den Jungs in der Schule gemacht.

Die Kommunikation mit ihren Eltern fällt den Petersens dagegen noch schwer. Sie sprechen kein Arabisch, die neuen Mitbewohner im Obergeschoss kein Englisch. Vor allem Ahmed verstehe mittlerweile aber etwas Deutsch. „Es geht mit Händen und Füßen irgendwie“, sagt Irina. Die 48-Jährige lernt selbst mit Buch und CD arabisch. Manchmal hilft aber nur ein Dolmetscher.


Nach dem ersten Schreck

Einmal in der Woche fährt sie mit ihrer Tochter und Ahmed aufs Festland. Schnurgerade geht es mit der Lore dann durch die raue Welt des Wattenmeeres. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen auf der kleinen Bahn mit Dieselantrieb Platz finden. Am Gashebel vorne sitzt Johann. Zwischen etlichen Paketen zwängen sich hinter ihm unter einer Abdeckung gleich mehrere Kinder.

Mit ordentlichem Tempo bahnt sich die Lore ihren Weg in Richtung Dagebüll auf dem Festland. Die Lore tuckert vorbei an den Häusern der benachbarten Hallig Oland und weiter über den schmalen Damm. Die Nordsee regt sich bei schönem Wetter kaum. Etwa 45 Minuten dauert die Tour. Rund zehn Kilometer sind es von Langeneß bis Dagebüll.

Dann geht es mit dem Auto weiter ins zwölf Kilometer entfernte Niebüll. Dort hat Petersens Tochter Lene Klavierunterricht. Irina nutzt die Zeit für einen Besuch beim irakischen Kaufmann Mustafa. Dann wird mit seiner Hilfe als Dolmetscher besprochen, wo den Syrern gerade der Schuh drückt oder was ihnen fehlt.

Dass die syrische Familie auf Langeneß überhaupt eine Zuflucht finden konnte, hat mit der Hartnäckigkeit der Petersens zu tun. Familienvater Johann bringt mit seinem Boot und der Lore die Post auf die Halligen Oland, Langeneß, Gröde und Habel.

Als er die Bilder aus dem Krieg in Syrien und das Leid der Menschen sah, wollte er helfen, durfte aber nicht. Man könne hier niemanden rüberschicken, hieß es in der Ausländerbehörde des Kreises Nordfriesland zunächst, wie er sich erinnert.

Eine Hallig ist nach Ansicht von Schleswig-Holsteins Flüchtlingsbeauftragtem Stefan Schmidt nicht wirklich ideal für Flüchtlinge. Dazu seien die Lage der kleinen Eilande und auch der dort lebende Menschenschlag einfach zu speziell. „Wenn es aber klappt und noch dazu der Kontakt zur Familie besteht, ist das für eine Integration natürlich das Beste.“

Die Hilfsbereitschaft der Petersens beeindruckt ihn. Zwar gebe es in Schleswig-Holstein eine überdurchschnittliche Hilfsbereitschaft. Gehe es aber um die konkrete Unterbringung von Flüchtlingen, „gibt es leider teilweise immer noch zu viel Furcht“, sagt Schmidt.

Ende vergangenen Jahres stimmten die Behörden angesichts der vielen Flüchtlinge schließlich doch dem Begehren der Petersens zu. Am 2. November holten sie die syrische Familie in Niebüll ab, fuhren sie mit der Lore nach Langeneß. „Die waren nach Ankunft hier ziemlich entsetzt“, sagt Johann Petersen.

Etwas weiter südlich von Hallig Langeneß war der Schreck Anfang Dezember noch größer: Eine afghanische Familie mit vier Kindern wollte Hallig Hooge am liebsten sofort wieder verlassen. „Wir hatten erst eine heikle Situation“, sagt Hooges Bürgermeister Matthias Piepgras. Mittlerweile hätten sich die Flüchtlinge aber eingelebt. „Das läuft jetzt richtig gut.“ Die neuen Halligbewohner erhalten jeden Tag zwei Stunden Deutsch-Unterricht.


Deutschland ist „brauner als bislang gedacht“

Soweit ist es auf Langeneß noch nicht. Ahmed und Iman lernen Deutsch derzeit vor allem von ihren Kindern. Im vergangenen August ließ die Familie ihre Heimat Syrien hinter sich. Mit wenig Hab und Gut machten sich auf den Weg zunächst in die Türkei. Von dort ging es in einem kleinen Boot über das Mittelmeer nach Griechenland, berichtet der Familienvater. Per Bus und Bahn folgten die letzten Etappen der strapaziösen Reise bis in den hohen Norden. „20 Tage haben wir für unsere Flucht gebraucht.“ Er vermisse sein Land.

Petersen sitzt in seinem Schaukelstuhl und raucht eine selbst gedrehte Zigarette. Der syrische Familienvater sitzt ihm gegenüber und knabbert an einer Teigschnecke. „Ahmed hat alles richtig gemacht, und wir machen hier in Deutschland im Moment einfach ziemlich viel falsch“, sagt Petersen.

Für Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, wie sie auf dem deutschen Festland fast täglich vorkommen, fehlt dem Mann mit dem prächtigen Rauschebart und der Wollmütze jedes Verständnis. „Wir haben ein gesellschaftliches Problem. Und das liegt nicht an den Syrern.“ Deutschland sei offensichtlich „viel brauner, als man bislang gedacht hat“.

Auch deshalb haben die Petersens ihren Nachbarn auf der Hallig zunächst nichts von den Neuankömmlingen erzählt. „Das Ganze hätte ja auch schiefgehen können“, sagt Irina. Ging es aber nicht. Die Syrer fühlen sich dort wohl. „Das Gros der Halligbewohner ist ganz angetan.“

Im Wattenmeer haben die Flüchtlinge naturgemäß wenig Kontakt zu Landsleuten. Allerdings waren Familienangehörige, die ebenfalls in Deutschland leben, dort bereits zu Besuch. „Ich fühle mich sehr gut hier, sehr gut angenommen“, sagt Ahmed und wirkt dabei zufrieden. Er will nun so schnell wie möglich arbeiten. Sein Wunsch ist ein Job als Fahrer, wie er ihn in seiner Heimat hatte, erzählt er. Dort hat er zudem als Bauer gearbeitet. Er würde deshalb auch hier gern in der Landwirtschaft helfen.

Bereits in seiner Heimat hat der Syrer mit Pferden gearbeitet. Dass er mit Tieren umgehen kann, hat er bereits bei der Arbeit mit den Highland-Rindern der Petersens bewiesen. Als der 48-Jährige mit einer Erkältung flach lag, hat der Syrer den kleinen Hof auf der Warft selbst geschmissen. „Die anderen hier fragen mich schon immer: Können wir den nicht auch mal haben?“, erzählt Johann. So wie sein Nachbar. „Es gebe für ihn einige Arbeit, er bekäme auch nicht nur den Mindestlohn“, sagt Hein Hildebrand.

Junge Familien fehlen auf den Halligen. „Wir haben ein kleines demografisches Problem“, sagt Petersen. „In den vergangenen Jahren sind zwar einige vom Festland zurückgekehrt“, sagt Bürgermeisterin Heike Hinrichsen. Die Tendenz sei langfristig aber eher wieder abnehmend.

Ahmed selbst kann sich durchaus vorstellen, auf der Hallig zu arbeiten, um seine Familie zu versorgen. Doch die Bürgermeisterin ist da eher skeptisch. „Es ist ja mit Arbeit eher schwierig auf der Hallig“, sagt Hinrichsen. Die Syrer seien aber willkommen. „Die Akzeptanz ist bei uns sehr groß, jeder ist bereit zu helfen.“

Sie glaubt dennoch, dass sich die Familie langfristig in Richtung Festland orientieren wird. „Einfach weil sie da mehr Möglichkeiten haben.“ Und was sagen die syrischen Halligbewohner selbst dazu? Ob sie für immer auf Langeneß bleiben wollen, könne er noch nicht sagen, erzählt Ahmed.

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