
Erneut lässt die ungarische Polizei tausende Flüchtlinge, die in Budapest in und um den Hauptbahnhof campieren, per Zug weiter Richtung Deutschland reisen. Die deutschen Behörden, allen voran die Bundespolizei, bereiten sich auf den nächsten Flüchtlingsschub vor. Mit dem bisher verfügbaren Personal können Polizei und Betreuer den Ansturm nicht mehr bewältigen.
Am Montag, als Ungarn zum ersten Mal ungehindert Flüchtlinge im Zug ausreisen ließ, hatte die Bundespolizei im bayrischen Rosenheim bereits aufgegeben und die Menschen unkontrolliert nach München weiterfahren lassen. Doch auch dort ist die Situation kritisch. Emilia Müller, die bayrische Sozialministerin, mahnt bereits eine „größere Solidarität“ der anderen Bundesländer an. Es fehlt an allem, an Erstaufnahmestellen, Unterkünften und Personal, um all die Asylbewerber überhaupt erfassen zu können, geschweige denn, über deren Anträge zu entscheiden.
Vor allem die Bundespolizei braucht dringend Unterstützung. Doch Bundesinnenminister Thomas de Maizière, dem der frühere Bundesgrenzschutz untersteht, hat hier noch nicht um Amtshilfe gebeten. Dabei wäre Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sofort bereit, mit einem Teil seiner 40.000 Zöllner auszuhelfen, zu denen 12.000 waffentragende Vollzugsbeamte gehören.
Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen
Trotz der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer wagen viele Tausend Menschen die Flucht nach Europa. 219.000 Menschen flohen laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2014 über das Mittelmeer nach Europa; 2015 waren es bis zum 20. April 35.000.
3.500 Menschen kamen 2014 bei ihrer Flucht ums Leben oder werden vermisst; im laufenden Jahr sind es bis zum 20. April 1600.
170.100 Flüchtlinge erreichten 2014 über das Meer Italien (Januar bis März 2015: mehr als 10.100); weitere 43.500 kamen nach Griechenland, 3.500 nach Spanien, 570 nach Malta und 340 nach Zypern.
66.700 Syrer registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2014 bei einem illegalen Grenzübertritt auf dem Seeweg, 34.300 Menschen kamen aus Eritrea, 12.700 aus Afghanistan und 9.800 aus Mali.
191.000 Flüchtlinge stellten 2014 in der EU einen Asylantrag (dabei wird nicht unterschieden, auf welchem Weg die Flüchtlinge nach Europa kamen). Das sind EU-weit 1,2 Asylbewerber pro tausend Einwohner.
...beantragten 2014 in der EU Asyl (2013: 50.000).
202.700 Asylbewerber wurden 2014 in Deutschland registriert (32 Prozent aller Bewerber), 81.200 in Schweden (13 Prozent) 64.600 in Italien (10 Prozent), 62.800 in Frankreich (10 Prozent) und 42.800 in Ungarn (7 Prozent).
Um 143 Prozent stieg die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zu 2013 in Italien, um 126 Prozent in Ungarn, um 60 Prozent in Deutschland und um 50 Prozent in Schweden.
Mit 8,4 Bewerbern pro tausend Einwohner nahm Schweden 2014 im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Flüchtlinge auf. Es folgten Ungarn (4,3), Österreich (3,3), Malta (3,2), Dänemark (2,6) und Deutschland (2,5).
600.000 bis eine Million Menschen warten nach Schätzungen der EU-Kommission allein in Libyen, um in den nächsten Monaten die Überfahrt nach Italien oder Malta zu wagen.
In seinem Ministerium herrscht Erstaunen, von de Maizière noch kein entsprechendes Amtshilfeersuchen erhalten zu haben. „Sofern eine entsprechende Anfrage eingehen sollte, wird das BMF zeitnah entscheiden und gegebenenfalls das Erforderliche kurzfristig umsetzen“, sagt eine Schäuble-Sprecherin der WirtschaftsWoche auf Anfrage.
Wundern, ja ärgern tut sich auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP). Angesichts des anhaltenden Flüchtlingsstroms appelliert die Gewerkschaft der Polizei (GdP) an den Bundesinnenminister, umgehend ein Amtshilfeersuchen an den Bundesfinanzminister zu stellen und Zollbeamte zur Unterstützung der Bundespolizei bei der Registrierung und Betreuung der Flüchtlinge anzufordern.
Limit erreicht
„Alle Instanzen, von der Polizei bis zu den Kommunen, haben ihr Limit längst erreicht“ so Jörg Radek, Vorsitzender der GdP für die Bundespolizei. „Von den Erstaufnahmestellen, die hoffnungslos überfüllt sind, bis in die kleinsten Dörfer und Gemeinden, die verzweifelt nach Unterbringungsmöglichkeiten für diese Menschen suchen, sind die Alarmsignale nicht mehr zu überhören.
Daher fordern wir Bundesinnenminister de Maizière auf, unverzüglich ein entsprechendes Amtshilfeersuchen an Bundesfinanzminister Schäuble zu stellen. Alles andere ist völlig verantwortungslos,“ erklärt GdP-Vertreter Radek gegenüber der WirtschaftsWoche.
Status und Schutz von Flüchtlingen in Deutschland
Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland. Viele von ihnen dürfen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl aus unterschiedlichen rechtlichen Gründen bleiben. Dabei reicht die Spannbreite vom Asylstatus bis zu einer befristen Duldung mit drohender Abschiebung.
Flüchtlinge, die in ihrem Heimatländern politisch verfolgt werden, haben laut Artikel 16 a des Grundgesetzes Anspruch auf Asyl. Hierfür gibt es allerdings zahlreiche Schranken, die Ablehnungsquote bei Asylanträgen liegt bei 98 Prozent. Schutz und Bleiberecht etwa wegen religiöser Verfolgung oder der sexuellen Orientierung wird auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt. Für die Praxis spielt die genaue rechtliche Grundlage allerdings keine Rolle: Anerkannte Asylberechtigte erhalten gleichermaßen eine Aufenthaltserlaubnis, die nach drei Jahren überprüft wird. Auch bei den staatlichen Unterstützungsleistungen, etwa Arbeitslosengeld II oder Kindergeld, gibt es keine Unterschiede.
Sogenannten subsidiären, also nachrangigen, Schutz erhalten Flüchtlinge, die zwar keinen Anspruch auf Asyl haben, in ihrer Heimat aber ernsthaft bedroht werden, etwa durch Bürgerkrieg oder Folter. Sie sind als „international Schutzberechtigte“ vor einer Abschiebung erst einmal sicher und erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst ein Jahr. Die Erlaubnis wird verlängert, wenn sich die Situation im Heimatland nicht geändert hat.
Eine Duldung erhält, wer etwa nach einem gescheiterten Asylantrag zur Ausreise verpflichtet ist, aber vorerst nicht abgeschoben werden kann. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn kein Pass vorliegt oder es keine Flugverbindung in eine Bürgerkriegsregion gibt. Fällt dieses sogenannte Hindernis weg, droht dem Betroffenen akut die Abschiebung. Zu den Hindernissen für eine Abschiebung zählt unter anderem auch der Schutz von Ehe und Familie. Beispielweise kann ein Ausländer, der hier mit einer Deutschen ein Kind hat, nicht ohne weiteres abgeschoben werden.
Informell unterstützen Zöllner im Außendienst schon jetzt die Bundespolizei, indem sie in Grenzgebieten Flüchtlingsgruppen auflesen und zu Aufnahmelagern begleiten. Zumindest an anderer Stelle hat Innenminister de Maizière bereits seine Ministerkollegen um Unterstützung gebeten, nämlich bei der Bearbeitung der Asylanträge.
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel zum Beispiel lässt in seinem Geschäftsbereich nach Helfern suchen. „Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind aufgefordert, sich freiwillig für eine Abordnung von sechs Monaten zu melden“, teilte das Ministerium mit. Selbst Pensionäre wie der frühere Innenstaatssekretär Johann Hahlen sind gegen Aufwandsentschädigung im Einsatz, um bei den individuellen Asylprüfungen juristisch auszuhelfen.
Das in Empfang nehmen, registrieren und prüfen der Flüchtlinge ist indes in vielen Fällen erst der Anfang. Die nächste Herausforderung der Behörden besteht darin, die Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan dauerhaft in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Das gilt besonders für den Arbeitsmarkt.
Zwar sei die Bereitschaft der Betriebe, Asylbewerber einzustellen, „enorm“, sagt der Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Holger Schwannecke. Doch er schränkt zugleich ein: „Für den Arbeitsmarkt oder die duale Ausbildung fehlen in der Regel die unverzichtbaren deutschen Sprachkenntnisse. Ohne vorbereitende Kurse werden die allermeisten Flüchtlinge nicht ausbildungsfähig sein.“ Selbst qualifizierte Flüchtlinge wie syrische Universitätsabsolventen hätten es ohne Sprachkenntnisse schwer, sagt eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit: „Das wird kein schneller Prozess.“
Und kein billiger. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ließ in ihrem Haus schon ausrechnen, was berufsbezogene Sprachkurse und Qualifizierungsmaßnahmen samt Unterstützungsleistungen in der Nach-Asyl-Zeit kosten könnten. Allein für 2016 ergebe sich „ein zusätzlicher Mittelbedarf in der Bandbreite von 1,8 bis 3,3 Milliarden Euro“, erklärt die Ministerin. Dieser dürfte auf rund sieben Milliarden Euro im Jahr 2019 steigen, prognostizieren ihre Beamten.