Flüchtlinge Geschlossene Grenzen sind ein zu hoher Preis

Kritiker nennen Angela Merkels Flüchtlingspolitik naiv. Sie sollten nicht vergessen, was uns reich macht. Das europäische Projekt basiert nämlich auf der Logik eines offenen Kontinents. Ein Gastbeitrag.

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Flüchtlinge neben einem Schild des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge Quelle: dpa

Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel gerät für ihre Politik in der Flüchtlingsfrage immer stärker unter Druck. Eine erstaunlich große Zahl von Experten und Politikern – im In- und Ausland – nennt Merkels Haltung „naiv“. Liest man deren Einlassungen, drängt sich der Eindruck auf, keine vernünftige Person dürfe überhaupt noch erwägen, die Grenzen in Europa offen zu halten. Eine solche Haltung widerstrebt allem, worauf ich weite Teile meiner Karriere verwendet habe – der Öffnung von Grenzen für Austausch und Handel.

Mich verblüfft, verwirrt und schockiert, wie leichtfertig die historische Errungenschaft offener Grenzen in Europa infrage gestellt wird.

Zur Person

Das Projekt der Europäischen Union (EU) basiert nämlich auf der Logik eines offenen Kontinents – wenn unterschiedliche Länder enger zusammenrücken, indem sie Menschen, Güter, Waren und Kapital frei austauschen, ist das Ergebnis: mehr Frieden und Wohlstand für alle. Warum wollten denn seit der Gründung der EU immer mehr europäische Staaten Mitglieder werden? Doch wohl in erster Linie, weil der Binnenmarkt und das Prinzip der Freizügigkeit echte Erfolgsgeschichten waren. Die Prosperität unseres Kontinents ist dank ihnen stetig gewachsen.

Wenn Jahrzehnte kniffliger Verhandlungen nötig waren, um dies zu erreichen, wollen wir diesen Meilenstein wirklich binnen weniger Tage aufs Spiel setzen? Das würde politische Unvernunft in einer nie da gewesenen Größenordnung darstellen – und unterliegt zudem der Illusion, nationale Politik könne eine Antwort auf europäische Herausforderungen darstellen.


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Würden wirklich weniger Flüchtlinge nach Europa kommen, wenn Deutschland seine Grenzen dicht machte? Großbritannien etwa ist eine Insel, aber ein Flüchtlingsproblem haben sie dort auch.

Wenn das Erfolgsrezept Binnenmarkt uns eins gelehrt hat, dann dies: Europaweite Probleme brauchen europaweite Lösungen. In diesem Kontext muss man die Politik von Kanzlerin Merkel sehen. Sie hat verstanden, dass die Länder der Schengen-Zone sich gegenseitig unterstützen müssen – und Flüchtlinge nicht nach Deutschland kommen, sondern nach Europa. Daher braucht das Land Hilfe, vor allem wenn 2016 noch mehr Flüchtlinge auf den Kontinent strömen. Lassen die anderen EU-Mitgliedstaaten Merkel hingegen alleine, versündigen sie sich am solidarischen Geist der europäischen Verträge.

Also ist der – gemeinsame – bessere Schutz der EU-Außengrenzen weit Erfolg versprechender als Grenzschließungen in der Schengen-Zone. Die EU-Kommission hat entsprechende Pläne unterbreitet, aber bislang machen zu wenige Mitgliedstaaten mit. Denkbar wäre auch ein europäischer Flüchtlingsstatus, der dem Flickenteppich der verschiedenen Asylregelungen quer über den Kontinent ein Ende bereiten würde, begleitet von mehr Hilfe für Transitstaaten.

Natürlich ist all das teuer. Die Errungenschaften von Schengen – Sicherheit und Wohlstand – panisch aufs Spiel zu setzen und damit den Binnenmarkt als Wachstumsmotor abzuwürgen wäre aber unendlich viel teurer.

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