Flüchtlinge in Deutschland Wir schaffen das. Vielleicht...

Auf Willkommenseuphorie folgt Panik vor Überforderung. Beides ist falsch, die Politik braucht vor allem Zeit, um den Flüchtlingsansturm zu bewältigen. Aber bekommt sie die?

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Selfie mit Angela Merkel auf einem Handy

Am vergangenen Wochenende sollten 10.000 Flüchtlinge durch Hessen reisen, so lautete die Prognose, und Frankfurt wappnete sich. Die Main-Metropole berief – wie sonst nur beim Katastrophenschutz üblich – einen Sondereinsatzstab ein, sie versuchte Betten bereitzustellen, in einer Fabriksporthalle (350), in der Aula einer Sport-Uni (180), in einer Leichtathletikhalle (350). Als am Samstagmorgen die Kunde kam, aus Wien sei ein ICE mit 800 Flüchtlingen Richtung Frankfurt unterwegs, fühlten sich die Stadtoberen einigermaßen bereit.

Doch auf dem Bahnsteig standen schließlich mehr Helfer als Flüchtlinge, nur 20 stiegen aus. Die allermeisten hatten schon in Nürnberg den Zug verlassen, Bayerns Behörden ihre hessischen Kollegen nicht rechtzeitig informiert. Die schöne Planung war vergebens. Oder doch nicht? Zwei Tage später kam wieder so ein Zug in Frankfurt an, diesmal stiegen tatsächlich 850 Flüchtlinge aus, diesmal ohne Vorwarnung. Prompt fehlte es wieder an Notbetten, Flüchtlinge mussten im Bahnhof kampieren. „Wir wissen nie, was auf uns zukommt und was nicht“, klagt ein Vertreter der Stadt.

Derlei Pannen gab es viele, quer durch Deutschland, das sich vor gerade einer Woche in einem Spätsommermärchen wähnte, als Kanzlerin Angela Merkel die Grenze für Flüchtlinge aufriss und die Welt unsere Gastfreundschaft bejubelte. Es war das helle Deutschland, das sich da zeigte, nicht mehr Dunkeldeutschland. Doch es wurde mit jeder Stunde, in der Züge rollten, Planungen schiefliefen und Chaos regierte, wieder ein wenig dunkler. So sehr, dass am Samstagnachmittag Merkel in einer Telefonschalte mit ihren wichtigsten Ministern Kontrollen an der Grenze zu Österreich beschloss, zumindest vorübergehend. Dem Volk verkünden musste die bittere Reaktion ihr ohnehin überfordert wirkender Innenminister Thomas de Maizière.

Was Flüchtlinge dürfen

Ist das schon das Ende von Merkels Flucht nach vorne? Die Einsicht, dass ihr „Wir schaffen das“ zur Flüchtlingsfrage ein uneinlösbares politisches Versprechen war? Wohl kaum, daran ließ die Kanzlerin höchstpersönlich keinen Zweifel. „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“, sagte sie am Dienstag.

Am Abend stellte sie den Ministerpräsidenten prompt „Verteilzentren“ in Aussicht, die bei der Koordination von Flüchtlingen helfen sollen, wohl mithilfe der Bundeswehr.

„Wir erwarten, dass der Bund alle dafür notwendigen Voraussetzungen sicherstellt“, sagt Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, in dessen Land einer dieser Knoten entstehen soll. Gemeint sind: Geld und Personal. „Seitens des Landes Niedersachsen könnte es dann gerne sehr schnell losgehen.“

Aber die Lage bleibt dennoch höchst kompliziert, das geben Merkel-Vertraute offen zu. Sie bitten um Zeit, auch um Vertrauensvorschuss. Bis zum 24. September, dem nächsten Bund-Länder-Gipfel, soll ein Rundum-Gesetzespaket stehen. Doch sowohl Zeit als auch Vertrauen sind ein rares Gut geworden, da Städte unter dem Ansturm Tausender Flüchtlinge ächzen. „Dagegen ist Griechenland ein Kinderspiel gewesen“, sagt ein Berliner Insider.

Bund und Länder müssen sicherstellen, dass Flüchtlinge ein Dach über den Kopf bekommen und versorgt werden. Dass sie schneller in Arbeit kommen. Dass jene, die kein Asyl erhalten, zügiger abgeschoben werden. Und: Es muss genug Geld für alle Maßnahmen da sein. Ach ja, Europa sollte auch noch eine gemeinsame Lösung finden.

Die erste, elementare Aufgabe ist schon schwierig genug. Als 300 SPD-Kommunalpolitiker in dieser Woche mit Vizekanzler Sigmar Gabriel und SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann diskutierten, rissen die Klagen nicht mehr ab, über den Mangel an Schlafplätzen, Betreuern, Geld. Fragt sie jemand in den Schaltkonferenzen der Innenminister von Bund und Ländern, welche Kapazitäten sie für Flüchtlinge frei haben, müssen immer wieder Länder melden: null. Wohncontainer sind deutschlandweit aus, Dixitoiletten sowieso. Bauen, Vermieten, Bewohnen soll zwar flexibler möglich werden, aber Wandel dauert, und es gibt Grenzen. In die Materialsammlung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Flüchtlingskrise hatte sich etwa die Forderung eingeschlichen, private Hauseigentümer zu zwingen, leer stehende Wohnungen an Flüchtlinge zu vermieten. Deren Engagement „dürfe nicht durch Zwangsmaßnahmen erstickt werden“, protestierte prompt Kai Warnecke vom Verband Haus & Grund, immerhin Vertreter von 900.000 deutschen Wohnraumeigentümern. Das Kanzleramt ließ die Idee rasch wieder streichen.

Sachleistungen statt Geld?

Ähnlich knifflig ist es, wenn es um Beschränkung von Hilfen geht, etwa Sachleistungen statt Geld. „Damit landen wir wieder in Karlsruhe“, heißt es aus dem Bundestag. Vor drei Jahren schon hatte das Bundesverfassungsgericht die ehemalige Höhe der Hilfen schließlich als „evident unzureichend“ bezeichnet. Auch für Flüchtlinge gilt das Existenzminimum. Wenn also nun über Sachleistungen gestritten wird, geht es gar nicht darum, staatliche Mittel zu kürzen – sondern nur darum, dass Asylbewerber weniger Bargeld in die Hände bekommen. Eigentlich hatte die Bundesregierung zum Jahreswechsel einen Schwenk zu mehr Geldleistungen vollzogen, weil so weniger Bürokratie entstünde. Daran ist nichts falsch, aber der Schwenk könnte schwer durchhaltbar sein. Die Flüchtlingswelle gibt denen neue Nahrung, denen der deutsche Sozialstaat schon immer zu üppig war.

Das gilt genauso für die medizinische Notfallversorgung. Das Asylbewerberleistungsgesetz begrenzt diese auf die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzen. Bremen und Hamburg erteilen Asylbewerbern aber seit Jahren bei Registrierung eine Gesundheitskarte der Krankenkasse AOK. Mit dieser Karte können Asylbewerber sich behandeln lassen, der Arzt rechnet wie gewohnt mit der Krankenkasse ab. Laut den Behörden der Stadtstaaten sind durch die Einführung der Karte Kosten gesunken. Nordrhein-Westfalen wird dem Beispiel folgen, Berlin will es auch. Die CDU lehnt die Gesundheitskarte jedoch ab, sie fürchtet, noch mehr Flüchtlinge zu locken. Es kommt wohl ein Test-Kompromiss, bei dem jedes Land entscheidet, was es machen will.

Aus diesen Ländern kommen Asylbewerber in Deutschland

Experimentiert wird auch bei der Arbeitsintegration. Bereits seit Längerem fragen Vertreter der Bundesagentur für Arbeit (BA), ob Vorrangsprüfungen für Asylbewerber noch zeitgemäß sind: Zwar dürfen Asylbewerber nach drei Monaten in Deutschland arbeiten. In den ersten 15 Monaten müssen jedoch bislang BA und Ausländerbehörden prüfen, ob sich nicht ein Deutscher oder EU-Bürger für einen bestimmten Job findet, diese haben Vorrang. Für Fachkräfte und Akademiker unter den Flüchtlingen wurde die Prüfung bereits Anfang des Jahres aufgehoben. Doch alle wissen um die doppelte Symbolkraft dieses Prinzips – in Deutschland leben immer noch rund eine Million Langzeitarbeitslose, und Wirtschaftsflüchtlinge könnten eine Aufhebung der Vorrangsprüfungen als Einladung missverstehen. Deshalb wird sie wohl nicht abgeschafft, sondern nur ausgesetzt – bis sich zeigt, ob die Integration in den Arbeitsmarkt wirklich leichter fällt.

Doch es soll ja nicht nur um Integration gehen, sondern auch um Abschiebung derer, die zwar Asyl suchen, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. Im Schnitt wird derzeit nur etwa jeder zehnte abgelehnte Asylbewerber abgeschoben, etwas höher ist der Anteil derer, die freiwillig und teilweise dank finanzieller Anreize in ihre Heimat zurückkehrten. Geschehen soll das etwa, indem Bewerber aus Ländern wie dem Kosovo – Anerkennungsquote: 0,1 Prozent – künftig nicht mehr auf die Kommunen verteilt werden, sondern in Erstaufnahmelagern bleiben. „So gehen Abschiebungen schneller“, heißt es in Berlin. Doch Praktiker wie der Innenminister von Baden-Württemberg, Reinhold Gall (SPD), wissen: Abgeschoben wird oft nicht, weil Betroffene ihre Nationalität nicht angeben und keinen Pass vorlegen, auch attestieren Ärzte oft bereitwillig körperliche oder seelische Gebrechen. „Diese Abschiebe-Hindernisse müssen beseitigt werden“, forderte Gall. „Insbesondere muss der Bund konsequent auf diejenigen Staaten einwirken, bei denen Probleme mit der Passbeschaffung bestehen.“

Status und Schutz von Flüchtlingen in Deutschland

Aber auch dafür braucht es wohl mehr Personal. Und wer soll das bezahlen? Der Deutsche Lehrerverband fordert schließlich ebenfalls 20.000 neue Lehrer, die BA will Tausende mehr Angestellte, von Sozialpädagogen zur Betreuung traumatisierter minderjähriger Flüchtlinge ganz zu schweigen. Mitte des Jahres hatte die große Koalition eine Milliarde Euro zur Unterstützung 2015 zugesagt, aber das war vor den neuen Flüchtlingsprognosen. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer verlangt eine Verdoppelung der Bundeshilfen in diesem Jahr und sechs Milliarden Euro im kommenden. Der Bayer weiß: Die Steuereinnahmen liegen auf Rekordhoch, das weckt Begehrlichkeiten. 2015 dürfte der Fiskus 672 Milliarden Euro einnehmen – knapp 28 Milliarden Euro mehr als 2014. Zudem sind die Zinsen für Bundesschulden niedriger als angenommen. Einen niedrigen einstelligen Milliardenbetrag könne man zusätzlich verkraften, heißt es im Finanzministerium, ohne die schwarze Null zu gefährden, also den ausgeglichenen Haushalt ohne Neuverschuldung.

Aber auch mehr? Vor Sozialkürzungen schrecken Regierungsvertreter zurück, schon um populistische Parteien nicht zu stärken. Die Union will zudem Steuererhöhungen vermeiden, wie sie die schleswig-holsteinische Finanzministerin Monika Heinold von den Grünen fordert. Eckhardt Rehberg, haushaltspolitischer Sprecher der Union, findet es „gefährlich, dass Heinold ihre linken Steuererhöhungspläne auf dem Rücken von Flüchtlingen austrägt“.

Allein kann Deutschland all das nicht schaffen. Doch die Einigung auf eine EU-weite Verteilungsquote bleibt in weiter Ferne. Nun sollen immerhin Flüchtlingslager in der Türkei oder in Jordanien an der Grenze zu Syrien besser ausgestattet werden, auch „Asyl-Hotspots“ in Italien oder Griechenland sind im Gespräch. Werden Flüchtlinge dort registriert, könnten sie gerechter in europäische Länder verteilt werden. Merkel will das auf einem EU-Sondergipfel klären. Doch der muss Beschlüsse einstimmig fällen. Es ist also letztlich eine Frage der Solidarität. Und die ist, ganz im Gegensatz zu Flüchtlingen, in Europa derzeit selten.

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