Flüchtlinge in Europa Die dröhnende Ratlosigkeit

Wohnsitz-Beschränkungen für Asylbewerber, schnellere Abschiebung: Die Politik übertönt mit unausgereiften Rezepten ihr Vakuum an Ideen. Europa muss proaktiv regulieren, um den Flüchtlingsstrom zu bremsen. Ein Kommentar.

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Nach der verheerenden Silvesternacht in Köln wächst die Angst vor einer unkontrollierten Zuwanderung von Flüchtlingen. Quelle: dpa

Man sollte sich nichts vormachen. Die Häme und der Hass, der jedem Internet-Nutzer ins Gesicht springt, sobald er „Flüchtlinge“ eingibt, ist der schweigenden, verunsicherten Mehrheit näher als ein heroisches: Wir schaffen das schon! Viele Ängste sind nachvollziehbar und sogar gerechtfertigt. Hass und Menschenverunglimpfung sind es hingegen absolut nicht.

Wohin die verbale Hassspirale unweigerlich führt, zeigen die Angriffe gegen Ausländer, der Telefonterror gegen Muslime, das Verächtlichmachen von Flüchtlingen. Das Wort wird zur Keule. Selbst die Frage danach, was nutzen uns die Flüchtlinge, führt in die falsche Richtung. Sie suchen Schutz und Obdach. Und der steht ihnen zu. Basta.

Doch die Politik lebt wie die Thermik davon, keine Leerräume entstehen zu lassen. Deshalb reden sie, selbst wenn sie nichts zu sagen haben, deshalb fordern sie, selbst wenn sie nicht wissen, was. Die einen wollen selbst anerkannte Asyl-Bewerber aus den Städten fernhalten und sie in wenig besiedelte, also strukturschwache Gebiete ohne Jobs ansiedeln.

Die anderen wollen sie entgegen der geltenden Rechtslage und der Europäischen Menschenrechtskonvention zügig abschieben und thematisieren bewusst nicht, dass dies nicht möglich ist, wenn den Flüchtlingen „zuhause“ Folter, Verfolgung oder Tod drohen. Auch das ist verboten. Von der Genfer Flüchtlingskonvention.

Die Wahrheit aber liegt woanders als ihren Worten: Die Politik nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa ist ratlos. Sie ist völlig ratlos. Das ist der Subtext zu allen ihrer Forderungen und fixen Rezepten, die sie in ihr Schaufenster für die Wähler stellen. Doch keiner will diesen Leerraum, dieses Vakuum eingestehen.


Der Andrang wird nicht aufhören

Sie wollen den Bürger nicht gestehen, sie sie sich momentan alle in Ersatzhandlungen ergehen, weil sie die eine große Frage nicht beantworten können: Wie ist der ungehemmte Zuzug zu stoppen ohne gegen geltende Rechtslagen zu verstoßen. Denn das Eingeständnis von Ratlosigkeit begreift der Politiker als politisch suizidalen Akt.

Tatsächlich widerrufen sich alle Gedanken zum Flüchtlingsproblem selbst, sobald sie auch nur geäußert sind: Ja, wir können sie nicht im Mittelmeer ertrinken lassen. Aber nein, wir können sie nicht alle aufnehmen. Ja, wir müssen die Fluchtursachen in den von Terror verwüsteten Ursprungsländern bekämpfen. Aber nein, nicht doch mit Assad!

Ja, wir müssen als ein ganzes Europa agieren. Aber nein, doch nicht wie die Deutschen allen Tür und Tor öffnen! Ja, wir brauchen Hilfe von außen. Aber nein, doch nicht mit dem Kurdenschlächter Erdogan! Ja, sie sollen in die Peripherie des Landes gesteckt werden. Aber nein, Hartz IV wollen wir ihnen massenhaft auch nicht geben. Sie sollen doch arbeiten!

Wer da behauptet, seine Antworten auf solche Fragen seien besser, nicht nur schnell eben, sondern auch nachhaltig, der mogelt. Zum politischen Gauklertum gehört ja auch, dass Worte als Balsam, Forderungen als Stärke begriffen werden wollen – Taschenspielertricks allesamt, die mittlerweile schon viel zu viele Bürger misstrauisch in Zweifel ziehen, weil sie das törichte Spiel durchschauen – und damit natürlich der Politik zusehends das Vertrauen aberkennen.

Die bittere Wahrheit ist: Der Andrang auf das von außen wie eine leuchtende Insel der Seligen erscheinende Europa wird lange Zeit nicht mehr aufhören. Die Fluchtbewegung hält solange an – wie man sieht auch unter Inkaufnahme des Todes – wie das Wohlstandsgefälle so extrem bleibt. Da ist in weiten Teilen der afrikanischen und arabischen Länder keinerlei schnelle Besserung in Sicht.


Europa muss als bedächtiger Schleuser agieren

Auch das ist Globalisierung: Die Bilder unseres Wohlstands oder des Wohlstands der happy few, der Begüterten unter uns wirken wie ein unwiderstehlicher Sog, den wir selber hierzulande, schon gar nicht als Nationalstaat nicht bremsen können.

Vielleicht aber, das wäre realistisch zumindest, können wir ihn kanalisieren. Das sähe dann so aus: Ein Europa, das sich zu einer gemeinsamen Flüchtlings- und Asylpolitik zusammenfindet, agiert als offizieller Schleuser. Dazu muss es jenseits des Mittelmeers die Schleusen für ganz Europa öffnen oder schließen können, um den „Druck vom Kessel“ zu nehmen.

So bitter es klingen mag: Dazu müssten tatsächlich selbst bei Asylbewerbern gesamteuropäische Quoten und Schlüssel bestimmt werden, müssten die Flüchtlinge fair und unerbittlich über ganz Europa verteilt werden. Wer Tod und Folter entfliehen will, muss und wird sich wohl darauf gefasst machen, dass er nicht das Traumland seiner Wahl erreichen wird, sondern zumindest eine ihn und seine Familie schützende Heimat geschenkt bekommt.

Gewiss doch, das ist noch Zukunftsmusik. Was wäre die Alternative? Ohne regulierten Zustrom nebst engagierter Aufbauhilfe jenseits des Mittelmeers gibt es kein anderes Ziel, das realistisch zu erreichen wäre. Sonst, bei Nichtstun, brechen die Dämme eines Tages völlig.

Denn es täuscht sich, wer glaubt, die Flucht von Bedrohten und Hungernden wäre durch einen politischen Willensakt, wäre durch erklärte Abschottung zu schaffen. Nein, Europa muss proaktiv regulieren. Es muss als bedächtiger Schleuser agieren.

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