Flüchtlinge in Griechenland "Wenn nur 3000 am Tag kommen, sind wir froh"

Der griechische Migrationsminister Ioannis Mouzalas spricht im Interview über Merkels Flüchtlingspolitik, nationale Alleingänge in der Flüchtlingskrise, Schleuser und die Angst der Griechen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Der Flüchtlingsstrom nach Griechenland ist ungebrochen. Tausende kommen täglich an. Quelle: dpa

Griechenland ist ein Brennpunkt der Flüchtlingskrise. Von den mehr als einer Million Asylsuchenden, die im vergangenen Jahr die EU erreichten, kamen etwa 850.000 über die griechischen Ägäisinseln. Athen ist in der Defensive: Griechenland sichere seine Außengrenzen nicht und versage bei der Registrierung der Flüchtlinge, sagen Kritiker. Ioannis Mouzalas ist als Vizeminister im griechischen Innenministerium für die Migrationspolitik und damit die Bewältigung der Flüchtlingskrise zuständig. Ende dieser Woche kommt er zu Gesprächen nach Berlin. Der 61-jährige Mouzalas weiß, was Krieg und Flucht bedeuten. Der in Athen, Mailand und London ausgebildete Gynäkologe gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Hilfsorganisation Ärzte der Welt und war an mehr als 25 Auslandseinsätzen beteiligt, darunter in Afghanistan und in der vom IS belagerten syrischen Kurdenstadt Kobane, bevor er Ende September von Premierminister Alexis Tsipras ins Kabinett berufen wurde. Im Handelsblatt-Interview sprach Mouzalas in Athen über die Herausforderungen, mit denen Europa in der Flüchtlingskrise konfrontiert ist, aber auch über eigene Versäumnisse.

Herr Minister, es gibt in Europa die Forderung, Griechenlands Nordgrenze müsste abgeriegelt werden, um dort eine „Verteidigungslinie“ gegen die Flüchtlinge zu errichten. Was sagen Sie dazu?
Die Flüchtlingskrise und das Migrationsproblem können nicht auf nationaler Ebene gelöst werden. Grenzschließungen würden bedeuten, dass Europa keine gemeinsame Politik hat, sondern dass jedes Land seinen eigenen Weg geht – selbst zu Lasten eines anderen Landes. Ich glaube, Europa muss gemeinsam auf diese historisch einmalige Herausforderung reagieren. Nationale Alleingänge führen zu einem gefährlichen Dominoeffekt.

Was würde das für Griechenland bedeuten?
Die Flüchtlingsströme beginnen nicht bei uns. Wir sind der Beginn des Korridors, die Tür zu diesem Korridor ist in der Türkei. Wenn die anderen Länder ihre Grenzen schließen, würden hunderttausende Flüchtlinge und Migranten in Griechenland festsitzen – ein Flaschenhals.

So viel Geld bekommen Flüchtlinge in den europäischen Ländern

Was sagen Sie zu der Forderung, Griechenland müsse aus der Schengen-Zone ausscheiden?
Manche versuchen, uns damit zu bestrafen. Diese Diskussion wird in einigen Ländern vor allem aus innenpolitischem Kalkül geführt. Die offizielle Haltung der EU ist: Wir brauchen eine Stärkung des Zusammenhalts der Schengen-Zone und bessere Kontrollen an den Außengrenzen. Das ist auch unsere Überzeugung.

Wie entwickelt sich denn aktuell der Strom der Ankömmlinge?
Wenn nur 3000 am Tag kommen, sind wir froh. Im Durchschnitt sind es 4000 pro Tag, trotz Kälte und stürmischer See. Das ist keine natürliche Entwicklung. Die ständigen Ankündigungen von Grenzschließungen arbeiten den Schleusern in die Hände. Sie drängen die Flüchtlinge, noch schnell die Überfahrt zu wagen, bevor die Grenzen dichtgemacht werden.

Wo kommen die Menschen her?
In früheren Monaten waren 75 Prozent der Ankömmlinge Bürgerkriegsflüchtlinge. Jetzt kommen immer mehr illegale Migranten, vor allem aus Marokko, Tunesien und Algerien. Sie stellen inzwischen an vielen Tagen die Hälfte der Ankömmlinge.

Was sagen Sie zu dem Vorwurf, Griechenland sichere seine Außengrenzen nicht?
Unsere Landgrenzen sind hervorragend gesichert. Dort kommt fast niemand illegal rüber.

Und in der Ägäis?
Dort halten wir uns an die Regeln der Genfer Konvention, das heißt: Wir retten die Menschen, die in den Flüchtlingsbooten in unsere Hoheitsgewässer kommen und bringen sie an Land. Ich habe neulich die Botschafter der EU-Staaten nach Lesbos eingeladen, und dann sind wir mit einem Schiff unserer Küstenwache bis an die türkischen Hoheitsgewässer gefahren. Dort haben wir gemeinsam gesehen, wie die Flüchtlingsboote ankommen. Ich habe die Botschafter dann gefragt: ‚Bitte sagen Sie mir, wie wir diese Grenze sichern sollen‘. Ich glaube, sie haben das Problem verstanden.

Welche Lösung sehen Sie?
Die einzige Lösung ist, den Schleusern an der türkischen Küste das Handwerk zu legen und die Flüchtlinge daran zu hindern, in die Boote zu steigen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn sie einmal auf dem Meer sind, gibt es ethisch, rechtlich und politisch keine andere Option, als sie zu retten. Deshalb sind wir auch für die Schaffung einer europäischen Küstenwache.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex?
Da gibt es ein großes Missverständnis. Es wird behauptet, wir wollten Frontex nicht. Das ist falsch und Teil dieses Spiels, sich gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben. Wir wollen mehr Frontex, als Europa uns gibt. Wir haben 1.800 Beamte angefordert. Davon sind nur 800 gekommen. Wir brauchen mehr Patrouillenboote. Wir haben um 100 Geräte zur elektronischen Speicherung von Fingerabdrücken gebeten, aber nur 45 erhalten, davon 15 aus Deutschland.

"Wir sind im Rückstand"


Wie sehen Sie die Rolle Deutschlands in der Flüchtlingskrise?
Deutschland hat in dieser Krise Europa zusammengehalten und dazu beigetragen, dass dieses Europa der Aufklärung nicht ins Mittelalter zurückgefallen ist. Das ist vor allem der Politik von Frau Merkel zu verdanken. Es verdient große Anerkennung, dass Deutschland fast 90 Prozent aller Flüchtlinge aufgenommen hat. Das führt natürlich in Deutschland zu politischen und gesellschaftlichen Spannungen. Aber ich hoffe und wünsche mir, dass sie im europäischen Geist und unter Achtung der Menschenrechte gelöst werden.

Was kann die Türkei tun?
Sie hat die Verpflichtung übernommen, die Flüchtlingsströme zu begrenzen. Das sehen wir bisher zwar nicht. Ich habe aber Respekt vor der Türkei: Sie beherbergt 2,5 Millionen Flüchtlinge, und die Zahl steigt. Als Arzt bin ich allerdings für klare, nüchterne Diagnosen. Die Flüchtlinge und Migranten kommen von der türkischen Küste. Nur dort kann das Problem gelöst werden. Ich klage die Türkei nicht an. Aber Europa muss der Türkei helfen, ihre Verpflichtungen umzusetzen.

Das muss die Große Koalition im neuen Jahr anpacken
Flüchtlinge vor dem Lageso Quelle: dpa
Anti-Terror-Kampf: Ein Tornado der Bundeswehr Quelle: dpa
Bundeswehr: Ursula von der Leyen spricht in Berlin mit Soldaten Quelle: dpa
Ukrainische Soldaten in der Nähe von Artemivsk Quelle: AP
EU-Kommissionspräsident Juncker (l.), EU-Ratspräsident Tusk (M.) und Luxemburgs Premierminister Bettel in Brüssel Quelle: dpa
Der griechische Premierminister Alexis Tsipras während einer Parlamentsdebatte Quelle: REUTERS
Frankfurter Skyline Quelle: dpa

Wie funktionieren die Hotspots zur Registrierung der Ankömmlinge auf den griechischen Inseln?
Wir sind im Rückstand. Der Hotspot auf Lesbos arbeitet jetzt. Die Zentren auf Chios, Samos und Leros werden Ende Januar voll in Betrieb sein. Die Europäer kritisieren, dass wir hinter dem Zeitplan liegen, und sie haben Recht mit dieser Kritik.

Warum diese Verzögerungen?
Es ist schwer, unter dem ständigen Andrang der Ankömmlinge solche Hotspots aufzubauen, vor allem hinsichtlich der Unterbringung der Menschen. Aufs Lesbos waren wir zweimal fast fertig. Der Hotspot war auf 3000 Ankünfte pro Tag ausgelegt. Dann kamen plötzlich innerhalb von zwei Tagen 17.000 Menschen aus der Türkei, und alles brach wieder zusammen. Wir wurden regelrecht überrannt.

Verstehen Sie die Kritik in Deutschland?
Ja. Aber ich möchte, dass unsere deutschen Freunde die Dimensionen verstehen. Bedenken Sie: Lesbos hat 50.000 Einwohner. Und dann kommen an einem Wochenende plötzlich 17.000 Menschen übers Meer. Wir sprechen hier von kleinen Inseln mit sehr begrenzten Aufnahmemöglichkeiten. Sie sagen vielleicht: Ihr Griechen schafft es nicht, in fünf Monaten 200 Container aufzustellen? Ich gebe zu: Wir haben es nicht geschafft. Dafür trage auch ich Verantwortung. Schuld trägt die Bürokratie, übrigens auch die der EU, und der Umstand, dass wir die schwerste Krise unserer jüngeren Geschichte durchmachen.

Wie können Sie ausschließen, dass unter den Flüchtlingen islamistische Terroristen nach Europa kommen?
Bisher ist die Registrierung an den Hotspots ein in sich geschlossenes System. Wir haben der EU vorgeschlagen, dass die Fingerabdrücke der Ankömmlinge schon bei der Registrierung mit den internationalen Fahndungssystemen wie Europol und Interpol abgeglichen werden, um Verdächtigte oder gesuchte Straftäter identifizieren zu können. Das wird jetzt endlich umgesetzt. Wir werden dann ein viel besseres Bild davon haben, wer zu uns kommt.

Herr Minister, vielen Dank für das Interview.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%