Flüchtlingsabkommen Warum Merkel auf die Türkei setzt

Die Kanzlerin reist am Samstag in den gefährlichen Süden der Türkei. Trotz der Causa Böhmermann gibt es gute Gründe, weshalb Merkel auf Ankara zählt – einer davon ist ihr eigenes politisches Überleben. Eine Analyse.

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Angela Merkel fliegt am Samstag in die Türkei. Dort trifft sie auch Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Quelle: AFP

Frankfurt Die Stadt Gaziantep, im bergigen Süden der Türkei, galt lange als eine wirtschaftliche Wunderstadt, ein sogenannter anatolischer Tiger. Die Industrie florierte, allerorten Baukräne, die Hotels stets gut gefüllt. Inzwischen fällt der Name der Stadt öfters in anderen Zusammenhängen: Flüchtlingskrise, Syrienkrieg, Islamischer Staat.

Regelmäßig schlagen Raketen aus Syrien in die Nachbarstadt Kilis ein; zuletzt wurden dabei fünf Syrer getötet, darunter vier Kinder. In Gaziantep selbst schoss am 10. April ein maskierter Mann einem syrischen Journalisten am helllichten Tag auf der Straße in den Kopf. Er erlag später seinen Verletzungen. Und Ibrahim El Bakraoui, einer der Attentäter vom Brüsseler Flughafen, ist im vergangenen Winter in Gaziantep aufgegriffen und nach Europa abgeschoben worden. Und genau dorthin reist Bundeskanzlerin Angela Merkel an diesem Samstag, gemeinsam mit dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk und dem stellvertretenden EU-Kommissionschef Frans Timmermans.

Die Kanzlerin gehört einerseits zu den Architekten des Flüchtlingsabkommens zwischen der Türkei und der EU. Demnach nimmt die Türkei von ihrem Territorium aus in die EU illegal eingereiste Flüchtlinge zurück. Im Gegenzug erhält die Türkei unter anderem Milliarden-Hilfen; außerdem wurde dem Land der Wegfall der Visumpflicht in Aussicht gestellt.

Kritiker werfen Merkel vor, sie habe sich mit dem Abkommen erpressbar gemacht, da Erdogan sich jederzeit weigern könne, Flüchtlinge zurückzunehmen. Und dann ist da noch der Fall Böhmermann: Merkel hat den von Erdogan verlangten juristischen Schritten gegen den Satiriker zugestimmt. Das lehnen laut ZDF-Politbarometer 62 Prozent der Befragten ab. Fast jeder Vierte hält es sogar für möglich, dass die CDU-Chefin noch vor der Bundestagswahl 2017 zurücktreten muss.

Und trotzdem hofiert Merkel die Türkei mit dem Besuch in Gaziantep einmal mehr. Warum? Wer nach der Antwort sucht, muss die realpolitische Arithmetik anwenden. Wiegt man die Vor- und Nachteile einer Kooperation mit Ankara ab, dominieren in der Summe die Vorteile – auch wenn es schmerzt. Ein Drahtseilakt. Aber: Der Deal mit Erdogan zahlt sich aus. Es gibt rationale Gründe, gerade jetzt mit der Türkei zu verhandeln. Nicht zuletzt, weil Merkels Überleben davon abhängen könnte.

Der Außenpolitik der Bundesregierung wird derzeit einzig von dem Imperativ angetrieben, die Flüchtlingszahlen zu senken und damit Europa zu stabilisieren. Kein Wunder: Beinahe in der gesamten EU erstarken radikale Parteien, in Deutschland und anderswo brennen Flüchtlingsheime. Der europäischen Willkommenskultur sind offenbar engere Grenzen gesetzt, als so mancher weltoffene Mensch wahrhaben will.


Die Türkei ist so stabil wie nie zuvor

Die Flüchtlingszahlen müssen also runter. Die Türkei ist außerhalb der EU der ideale Partner dafür, um dieses Ziel zu erreichen. Denn auch wenn es einen anderen Anschein hat: Die Türkei ist politisch so stabil wie nie. Die Zeit der Militärputsche in dem Land ist vorbei. Früher wechselten die Regierungsmannschaften so häufig wie in kaum einem anderen Land. Alleine in den 1970ern kam es elf Mal zu Neuwahlen, in den 1990ern zehn Mal.

Die aktuelle Regierungspartei AKP regiert seit 2002 ununterbrochen ohne Koalitionspartner. Die jüngste Umfrage des AKP-kritischen Forschungsinstituts Gezici zeigte, dass 56 Prozent der Befragten die Politik der AKP befürworten. Die Wirtschaft erlebt zwar gelegentliche Dämpfer; im Großen und Ganzen ist sie stabil. Gleichzeitig schmiedet Regierungschef Ahmet Davutoglu ein Bündnis nach dem anderen mit Nachbarstaaten, zuletzt mit dem Iran. Demonstrationen gab es zwar gegen den EU-Flüchtlingspakt. Nicht aber gegen die vielen Flüchtlinge an sich.

Das sind optimale Voraussetzungen, um über eine Reduktion der Flüchtlingszahlen zu verhandeln. Die Türkei kann – anders als die meisten anderen Nachbarn der EU – auch für einen längeren Zeitraum fast drei Millionen Schutzsuchende beherbergen. Merkel muss nicht befürchten, dass in naher Zukunft eine Partei in Ankara die Regierung stellt, welche die Flüchtlinge so schnell wie möglich loswerden will.

Was bleibt, sind zahlreiche Defizite in dem Land selbst. Kritikern wird der Prozess gemacht, Journalisten die Einreise verwehrt, Rebellen der verbotenen PKK erbittert gejagt. Entspricht das europäischen Werten? Sicher nicht.

Für Merkel zählt aber, was unter dem Strich übrig bleibt. Dazu gehört auch ihr politisches Überleben. Schon bei den Landtagswahlen in diesem Jahr zeigte sich, dass sie handeln musste. Im kommenden Jahr finden drei weitere Landtagswahlen statt, im Herbst die Bundestagswahl. Nur wenn die Zahl ankommender Flüchtlinge wirklich zurückgeht, hat ihre CDU dabei eine Chance. Die Türkei ist daher für sie das Land der Stunde.

Man muss diese Arithmetik nicht befürworten. Es gibt sogar gute moralische Gründe dafür, sie anzugreifen. Genau das macht die Zusammenarbeit mit der Türkei so kompliziert. Nationalistische EU-Mitglieder vor allem in Osteuropa wollen am liebsten auf jegliche Zusammenarbeit verzichten und stattdessen Zäune bauen. Die EU selbst ist sich nicht sicher, ob sie alle Zugeständnisse an die Türkei überhaupt einhalten möchte. Und der Koalitionspartner SPD hat sich in der Causa Böhmermann klar gegen die Türkei positioniert.

Um den Besuch in Gaziantep heil zu überstehen, braucht Merkel daher mehr als nur ein paar Bodyguards. Außerdem blickt die Bundeskanzlerin längst nicht mehr nur in den Nahen Osten, sondern auch über das Mittelmeer. Dort warten nach Meinung von Experten Millionen auf eine gefährliche Überfahrt nach Europa. Der Pakt mit Ankara ist unter diesem Aspekt bloß die Blaupause für Verhandlungen mit deutlich unbequemeren Machthabern aus Afrika. Die Türkei könnte Merkel und der EU bei den Gesprächen mit den zumeist islamisch geprägten Ländern sogar noch helfen.

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