




Ich war immer ein Freund der "Tagesthemen", und ich war eher kein Fan von Til Schweiger. Seit ein paar Tagen frage ich mich allerdings, ob ich diese Haltung nicht überdenken sollte. Aber der Reihe nach.
Vor kurzem sprach die NDR-Journalistin Anja Reschke in den Spätnachrichten einen Kommentar zur Flüchtlingsdebatte. Reschke attackierte darin den in Deutschland (wieder?) grassierenden Hass auf Ausländer. Sie forderte, dass es Zeit sei für einen Aufstand der Anständigen, Zeit, endlich "Gesicht zu zeigen" für Flüchtlinge, für Menschlichkeit und gegen Fremdenfeindlichkeit. Muss ich das eigens betonen: Natürlich hat sie recht.
Aber zwei Dinge störten mich. Erstens: Der Beitrag begann mit einer Frage "Wenn ich hier jetzt öffentlich sage, Deutschland solle auch Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen - was glauben Sie, was dann passiert?". Der Zuschauer bekam darauf keine rechte Antwort.
Doch genau um die geht es, gerade in diesen Tagen: Der Innenminister wird heute eine neue, aktualisierte Flüchtlingsprognose veröffentlichen. Mit 450.000 Flüchtlingen hatten die Behörden bislang gerechnet. Aber stattdessen könnten bis zu 800.000 Menschen in diesem Jahr in Deutschland Anträge stellen. Der bisherige Höchststand aus dem Jahr 1992 mit rund 440.000 Asylbewerbern wird nicht einfach eingestellt, sondern weggefegt.





Was bedeutet das für die Bundesrepublik? Den Menschen Asyl zu gewähren, die mit kaum mehr als dem, was sie am Leib tragen, vor Krieg, Terror und Gewalt flüchten, ist unsere humanitäre Verpflichtung. Auch andere, motivierte Zuwanderer willkommen zu heißen, die etwas können und leisten wollen, eine ökonomische. Aber: Wer fordert, die Bundesrepublik solle alle, wirklich alle Einwanderer aufnehmen, hat vielleicht die Moral auf seiner Seite, aber nicht die Vernunft.
Es gibt Grenzen der Aufnahmefähigkeit und, ja, wohl auch der Solidarität. Aber man muss dieser Tage nur auf die Zustände in griechischen Flüchtlingslagern schauen, um festzustellen: Diese Grenzen sind in unserem reichen Land wahrlich nicht erreicht. Noch lange nicht.
Länder mit der höchsten Zahl der Asylbewerber (2014)
Zypern
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 1.255
...pro 100.000 Einwohner: 145
Deutschland
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 126.705
...pro 100.000 Einwohner: 158
Belgien
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 21.030
...pro 100.000 Einwohner: 189
Ungarn
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 18.895
...pro 100.000 Einwohner: 190
Luxemburg
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 1.070
...pro 100.000 Einwohner: 199
Österreich
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 17.500
...pro 100.000 Einwohner: 207
Norwegen
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 11.930
...pro 100.000 Einwohner: 236
Schweiz
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 21.305
...pro 100.000 Einwohner: 265
Malta
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 2.245
...pro 100.000 Einwohner: 533
Schweden
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 54.270
...pro 100.000 Einwohner: 568
Womit wir schon fast bei Til Schweiger wären. Denn, zweitens: Der "Tagesthemen"-Aufforderung, Gesicht zu zeigen, folgten viele Menschen so: Sie posteten das Video auf Facebook oder teilten es dort. Massenhaft. So billig, so folgenlos war sogenannte Solidarität noch nie zu haben.
Schweiger hingegen hat angekündigt, ein Flüchtlingsheim zu bauen. Schenken wir uns die Einwände, dass das auch Profilierung und Eigen-PR eines Schauspielers und Filmemachers ist, der das Rampenlicht so liebt, und bislang reichlich Fragen offen bleiben. Sein Engagement ist großartig. Wenn es wahr wird.
Die noch viel größeren Helden aber sind all die namenlosen Til Schweigers da draußen. Projektinitiatoren zum Beispiel, die geltendes Recht so lange kreativ bearbeiten, bis sie Flüchtlingen endlich Praktika und Beschäftigung anbieten konnten. Ärzte, die umsonst behandeln. Lehrer, die Unterricht improvisieren. Soldaten und Freiwillige, die im Mittelmeer Menschen vor dem Ersaufen retten. Engagierte Bürger, die selbst gekauftes Essen und Wasser verteilen oder ihre Wohnungstüren öffnen und ihr Schlafsofa, ihre freien WG- und Gästezimmer und ihre Küchentische anbieten.
Gerade was Letzteres bedeutet, kann man nur ermessen, wenn man sich ganz ehrlich selber befragt: Wäre ich auch bereit dazu? Meine eigene Antwort lautet beschämt: Nein. Umso mehr gehört allen, die diese Frage mit Ja beantworten und danach handeln, meine und unser aller Hochachtung.