Flüchtlingsstrom nach Europa 22 Länder verweigern sich, nur sechs sind offen

Fast 60 Prozent aller Asylsuchenden gehen nach Deutschland und Ungarn. Gerade Mal sechs EU-Ländern sind offen für Flüchtlinge, 22 verweigern sich größtenteils. Ein Überblick, wie solidarisch Europa wirklich ist.

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Flüchtlinge in Frankreich, Großbritannien, Spanien, Polen und Ungarn auf der Suche nach Asyl. Quelle: dpa, Montage

Was sich in diesen Stunden zwischen Ungarn und Deutschland in Punkto Flüchtlinge abspielt, bringt die europäische Asylpolitik auf den Punkt: Es gibt nämlich keine. Es fehlt ein gemeinsames Asylrecht, eine gemeinsame Liste sicherer Herkunftsstaaten und gemeinsame Auffanglager. Jeder ist sich selbst der nächste – Stand September 2015.

Am späten Montagabend waren etwa 1.600 Flüchtlinge mit Zügen aus Ungarn in München angekommen. Die ungarische Polizei hatte am größten Budapester Bahnhof aufgehört, Flüchtlinge darin zu hindern, Züge Richtung Westen zu besteigen. Die bayrische Staatsregierung kündigte an, dass sie die Flüchtlinge nicht zurückschicken wird. Viele weitere Hundert werden nun in Bayern erwartet und dort registriert, obwohl das laut Dubliner Abkommen eigentlich in Ungarn passieren müsste.

Europa ist im wahrsten Sinne zum Verschiebebahnhof für Flüchtlinge geworden. Das belegen auch die Zahlen der europäischen Statistikbehörde. Eurostat hat bislang zwar nur die Flüchtlingsdaten für das erste Quartal des Jahres 2015 veröffentlicht. Darin wird aber deutlich, welche europäischen Länder besonders viele Flüchtlinge aufnehmen und welche Länder zu den Drückebergern gehören.

Im ersten Quartal nahm Deutschland 40 Prozent der Gesamtzahl der erstmaligen Asylbewerber auf, was zum damaligen Zeitpunkt 73.100 Menschen entsprach. Die absoluten Zahlen liegen im dritten Jahresquartal zwar deutlich höher, die Relationen dürften aber ähnlich geblieben sein. Demnach gehört Ungarn ebenfalls zu flüchtlingspolitischen Leistungsträgern in Europa. Das Land nahm im ersten Quartal 18 Prozent aller Asylsuchenden auf, Platz zwei hinter Deutschland.

Frankreich, Großbritannien und Italien – zusammen mit Deutschland die wichtigsten Volkswirtschaften in Europa – gehören hingegen zu den Verweigerern. Das Vereinigte Königreich hatte im ersten Quartal nur vier Prozent aller Flüchtlinge aufgenommen. Das waren 114 Flüchtlinge pro eine Million Einwohner. Zum Vergleich: In Ungarn waren es 3.322 pro eine Million Einwohner, in Deutschland 905.

Länder mit der höchsten Zahl der Asylbewerber (2014)

Großbritannien sieht sich innerhalb Europas als Festung und will sich vor Flüchtlingen schützen. „Ich werde dafür sorgen, dass unsere Grenzen sicher sind“, verspricht Premierministerminister David Cameron wieder und wieder. Dabei sind die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen gut. Die Arbeitslosigkeit ist mit 5,6 Prozent konstant niedrig. Und in den letzten Jahren waren die Briten Einwanderern gegenüber offen.

Italien fühlt sich im Stich gelassen

In Frankreich ist die Rhetorik gegenüber Flüchtlingen zwar deutlich friedfertiger (geworden). Verantwortung hat das Land aber wenig übernommen. Acht Prozent der Asylsuchenden hatten die Franzosen in den ersten drei Monaten des Jahres aufgenommen. Das waren gerade Mal 224 Asylsuchenden pro eine Million Einwohner.

Immerhin: Mit Hilfe der EU will Frankreich in der Hafenstadt Calais nun ein neues Flüchtlingslager mit Platz für bis zu 1500 Menschen errichten. Das Lager solle Anfang nächsten Jahres entstehen, sagte Frankreichs Premierminister Manuel Valls am Montag in Calais, einer der Brennpunkte in der Flüchtlingskrise in Europa.

In der am Ärmelkanal gelegenen Stadt sitzen mehr als 3000 Flüchtlinge aus Ländern wie Afghanistan, Syrien, Eritrea und dem Sudan fest. Sie wollen auf Fähren oder durch den Eurotunnel nach Großbritannien gelangen. Die meisten der Flüchtlinge leben unter sehr schlechten Bedingungen in einem improvisierten Flüchtlingslager, das unter dem Namen "Neuer Dschungel" bekannt wurde und Hilfsorganisationen kritisiert wird.

Auch Italien handhabt seine Asylpolitik zunehmend restriktiver. Im ersten Quartal 2015 nahmen die Italiener rund ein Drittel weniger Flüchtlinge auf als im vierten Quartal 2014. Letztlich waren es acht Prozent aller europäischen Asylsuchenden, die Italien aufnahm, gerade Mal 224 pro eine Million Einwohner. Ministerpräsident Matteo Renzi hatte die europäischen Staats- und Regierungschefs vor kurzem heftig kritisiert. „Ihr verdient es nicht, Europäer genannt zu werden“, soll er seinen Kollegen bei einem EU-Gipfel gesagt haben. Der Hintergrund: Italien leidet besonders unter Flüchtlingen, die sich über das Mittelmeer auf dem Weg nach Europa machen. Rom fühlt sich von seinen EU-Partner alleine gelassen.

Besonders betroffen von den Flüchtlingsstrom sind auch die Staaten auf der Balkan-Route: Die führt von Griechenland über Mazedonien, Serbien, Ungarn oder Tschechien nach Österreich, Deutschland oder noch weiter Richtung Norden. Obwohl die Flüchtlinge in der Regel nur die Staaten durchreisen anstatt sich dort niederzulassen, ist der Widerstand in den betroffenen und umliegenden osteuropäischen Ländern groß. „Niemand hat euch hierher eingeladen“, sagte Tschechiens Staatspräsident Milos Zeman kürzlich in einem Interview. Das Land nahm zuletzt nur 35 Flüchtlinge pro eine Million Einwohner auf.

Die Slowakei kündigte an, dass sie nur muslimische Flüchtlinge aufnehmen wolle. Schließlich gebe es im ganzen Land keine Moscheen – wie sollen sich die Asylbewerber dann wohlfühlen können? Die EU-Kommission machte Druck, weil dieses Verhalten gegen internationale Vereinbarungen wie der Genfer Konvention widerspreche. Schon wenige Stunden später rückte die slowakische Regierung wieder von ihrer Aussage ab.

Trotzdem, das Beispiel verdeutlicht, wie viele der osteuropäischen Regierungen mit dem Flüchtlingsproblem umgehen: Sie sind überfordert, für viele sind Migrationsströme sind ein völlig neues Problem. Rechte Splitterparteien heizen in Ungarn oder Tschechien die Stimmung an. Kaum einer der Staaten will deshalb freiwillig Flüchtlinge aufnehmen.

Mazedonien hat wegen der steigenden Flüchtlingszahlen mittlerweile einen Ausnahmezustand ausgerufen. Wegen der „massiven illegalen Grenzübertritte“ will die Regierung nun die Grenze zu Griechenland mit Soldaten kontrollieren und die örtliche Bevölkerung schützen. Mit Tränengas und Blendgranaten hinderten Polizisten die Flüchtlinge am Überqueren der Grenze. Das ist eine Kehrtwende in der Politik: Bisher hatte die Regierung die Flüchtlinge einfach durchreisen lassen. Auch Rumänien, das bisher kaum von den Flüchtlingsströmen betroffen, hat mittlerweile Soldaten an der Grenze zu Mazedonien postiert.

Polen hätte gerne christliche Flüchtlinge

Die beiden Staaten könnten damit dem Vorbild Ungarns nacheifern: Das österreichische Nachbarland schützt seine Grenze zu Serbien mit einem 175 Kilometer langen Zaun aus drei Lagen Stacheldraht. Trotzdem erreichen weiterhin mehrere tausend Flüchtlinge täglich das Land, von dem aus sie nach Deutschland oder Österreich weiterreisen. Die Regierung  von Ministerpräsident Victor Orbán lehnt es streng ab, weitere Flüchtlinge aufzunehmen und fordert mehr Unterstützung von der EU.

Ungarn ist ein Ausnahmefall. Nach Kein Land nimmt nach Pro-Kopf-Messung mehr Flüchtlinge auf, zeigt sich also solidarisch. Die Regierung in Budapest gilt aber auch als besonders flüchtlings-feindlich. Bereits mehrfach musste die europäische Kommission die ungarische Regierung warnen, weil die Flüchtlingspolitik gegen geltendes EU-Recht verstieß. So hielt die Regierung bis 2013 die Flüchtlinge einfach in den Unterbringungen fest. Nun will die Regierung an den Grenzen Zonen schaffen, in denen die Flüchtlinge ihren Asylantrag stellen und auf einen Entschluss warten müssen. Solange dürfen sie nicht nach Ungarn einreisen – nur die Rückkehr nach Serbien steht ihnen offen.

Serbien distanziert sich von den ungarischen Plänen: „Wir werden niemals irgendwelche Zäune oder Mauern errichten", sagte Ministerpräsident Aleksandar Vucic. Er kündigte an, neue Flüchtlingslager bauen zu wollen. Das Land könnte sich damit einen Pluspunkt bei den Beitrittsverhandlungen mit der EU verschaffen.

Polen, das bevölkerungsreichste Land der Region, hat sich hingegen nur zur Aufnahme von 2000 Flüchtlingen bereit erklärt. Im ersten Quartal waren es nur 38 pro eine Million Einwohner. mehr Flüchtlinge könne man nicht aufnehmen,  weil man „ein besonderes Problem wegen des Konflikts in der Ukraine habe“, sagte Polens Präsident Andrzej Duda. Am liebsten würde das streng katholisch geprägte Land ohnehin nur Christen aufnehmen, die meisten Asylbewerber stammen bisher aus Nachfolgestaaten der UdSSR.

Das zeigt: Die Liste der Verweigerer ist lang – egal, ob im Norden, Süden, Westen oder Osten des Kontinents. Neben Ungarn und Deutschland nehmen besonders Österreich (1141 pro eine Million Einwohner), Schweden (1184 pro eine Million Einwohner), Malta (811 pro eine Million Einwohner) und Zypern (501 pro eine Million Einwohner) viele Flüchtlinge auf. Alle wissen, dass es eine Quotenregelung zur Verteilung der Asylsuchenden braucht. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Nur der politische Wille zu einem zeitnahen Flüchtlingsgipfel, bei dem verbindlich neue Regeln festgelegt werden, fehlt.

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