Fortschritt auf dem Feld in Velgast Die Datendrescher – KI und Big Data trimmen die Landwirtschaft auf Effizienz

Quelle: Alexander Müller, Jannik Deters

Seit Jahren nimmt die Zahl der Bauernhöfe ab. Landwirte, die überleben wollen, setzen vermehrt auf Daten und künstliche Intelligenz. So wollen sie ihre Einnahmen verbessern – ihre Arbeit aber auch umweltverträglicher machen.

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Ulf Witting sitzt im Cockpit seiner Landmaschine, zwei Meter über dem Boden, und zeigt auf einen der vier Monitore zu seiner Rechten. Darauf: eine Karte, die eine 65 Hektar große Fläche abbildet. Diese Fläche bewirtschaften er und seine Mitarbeiter in Velgast in Mecklenburg-Vorpommern. „Das entspricht 80 Fußballfeldern, relativ groß“, sagt Witting unbeeindruckt.

Eingeteilt hat er die 65 Hektar wiederum in fünf Zonen, die er vorher am Rechner in seinem Büro festgelegt hat. Per Datenstick überträgt er die Aufträge an den Bordcomputer. Je nach Zone wirft das Gerät auf dem Feld die Menge an Dünger oder Pflanzenschutzmittel ab, die Witting ihm aufgetragen hat und die er für nötig hält. Die Entscheidung trifft er anhand seiner Satellitendaten.

Landläufig, sagt Witting, denke man ja immer noch, Landwirtschaft machten die, „die keine Ahnung haben oder nichts werden“. Sprichwörter wie „Der dümmste Bauer hat die dicksten Kartoffeln“ zeugen davon. Ein völlig falsches Bild, findet Witting naturgemäß: „Mit der Schaufel oder der Mistgabel machen wir relativ wenig.“

Stattdessen: Technik. Die Bildschirme, Joysticks und Knöpfe machen aus Wittings 18-Tonner eine High-tech-Maschine im Automatikbetrieb. Das Lenkrad seines Schleppers ist kaum in Benutzung. Längst haben die Vorzüge, mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) große Datenmengen zu nutzen, auch die Landwirtschaft erreicht.

Viele Daten, noch wenig Nutzen

Dass sich Bauern der Technologie verschreiben, hat dabei vielmehr mit Notwendigkeit als mit Spielerei zu tun. Denn die Landwirtschaft muss dringend effizienter werden: Die Zahl der Menschen, die landwirtschaftliche Betriebe führen, nimmt ab. Seit Jahren sinkt die Anzahl der Betriebe. Um die Jahrtausendwende waren es deutschlandweit rund 450.000 Höfe. Heute sind es knapp 265.000. Dazu kommt: Die Landwirte finden kaum geeignetes Personal. Beides hat auch mit den Arbeitszeiten zu tun. Unternehmer wie Witting sind quasi rund um die Uhr im Einsatz. Auch der Klimawandel verändert Vieles für die Bauern. Eine Studie aus dem vergangenen Jahr nennt ihn die größte Herausforderung für sie.

Die Landwirtschaft ist in der strukturschwachen Region um Velgast ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Aber sie muss ökologischer und ertragreicher werden. Mit diesem Ziel ist das Bündnis Artifarm angetreten: Mehr als 60 Forschungseinrichtungen, Industrievertreter, Vereine und Verbände haben sich zusammengetan, um die Infrastruktur auf den Äckern digital und autonom zu gestalten.

Das Bundesforschungsministerium unterstützt mit einem Förderprogramm strukturschwache Regionen wie Teile der ehemaligen DDR, Schleswig-Holsteins, Bayerns und des Ruhrgebiets. Vor wenigen Wochen hat Artifarm in der zweiten Förderrunde die Zusage für acht Millionen Euro bekommen. Nun kann das Bündnis beginnen, seine Pläne umzusetzen. Fällt die Zwischenbewertung Ende 2024 positiv aus, winken weitere sieben Millionen Euro Förderung.

Landwirt Ulf Witting (Mi.) könnte seine Daten noch viel effizienter einsetzen. Mit Wissenschaftler Christian Bunse, Andreas Engel, Geschäftsführer des Datenverarbeiters Boreus, WiWo-Redakteur Jannik Deters und Marie Büchler vom Artifarm-Bündnismanagement (v. li. n. re.) sprach er über die Vorzüge des Projektes. Quelle: Gesa Burkandt

Dem Zusammenschluss soll es gelingen, „mit Smart-Farming-Ansätzen Betriebsmittel noch effektiver einzusetzen und zugleich die CO2-Bilanzen der landwirtschaftlichen Betriebe zu verbessern“. So steht es abstrakt auf der Bündnisseite. Wie das konkret gehen soll, erklären ein Landwirt aus Rügen, ein Informatikprofessor aus Stralsund und der Chef einer Firma für Datenverwaltung bei Kaffee und Himbeerkuchen nun in Bauer Wittings offener Garage. Gern wollen sie auch ihn für ihren Zusammenschluss gewinnen.

Heinrich Heitmüller, Wittings Kollege von der Insel, arbeitet ebenfalls mit Satellitenaufnahmen, die zeigen, wie ertragreich einzelne Parzellen auf seinem Feld sind. „Weniger ertragreiche bekommen weniger Düngemittel“, so einfach sei das. Bisher aber verfügt er vor allem über Näherungswerte. Nun soll die KI die Datenmengen sortieren und die entscheidenden Informationen destillieren. Dann könne er gezielt da düngen, wo es nötig ist, und Mittel sparen, wo der Boden besonders fruchtbar ist.

Heitmüller sagt, er habe in den vergangenen 15 Jahren „unwahrscheinlich viele Daten gesammelt“. Größtenteils lägen diese aber ungenutzt auf einer Festplatte. Für sich genommen und ohne die verschiedenen Informationen etwa zur Fläche, der Wassertemperatur, der Bodenqualität, dem Düngestand und dem Insektenflug zu verknüpfen, „sind das einfach zu viele“, gibt er zu. Eine bessere Auswertung gelinge nur mit KI.

Nächster Halt: Aufbruch

Fahrt durch eine unterschätzte Republik

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Dafür hat Artifarm Andreas Engel. Er ist Geschäftsführer eines Stralsunder Datenverwalters und Cloudanbieters. Am Tisch in Wittings Garage sagt er: „Je mehr ich weiß, desto mehr kann ich daraus ableiten, wann ich Personal und Maschinen auf dem Feld brauche.“ Um das System zu verbessern, entwickelten die Wissenschaftlerinnen Sensoren, die, zum Beispiel, „im Boden stecken und die Pflanzen analysieren“, ergänzt Heitmüller. In Zukunft sollen die Daten dann in einer Cloud zusammengefasst werden.

Heitmüller denkt global: Die Technik könnte von Mecklenburg-Vorpommern aus einen großen ökologischen Effekt erzeugen. Denn eine zukunftsfeste Landwirtschaft in der eigenen Region sichere nicht nur Arbeitsplätze und die Versorgung vor Ort. Wenn dort ein Hektar Fläche aus der Produktion verschwinde, rechnet Heitmüller vor, müssten „im Amazonas, in Russland oder in Afrika drei bis fünf Hektar gerodet werden, um diese Fläche auszugleichen“. Produziere man zudem die Technologie in Deutschland, schaffe man ein Gut, das „weltweit exportiert werden kann“.

In Velgast und Umgebung sind die Bedingungen geeignet, um die Sensor- und KI-Technik auszuprobieren. Die Böden sind gut, weil die Brise und das Wasser der Ostsee das Wetter regulieren. Selten ist es sehr heiß oder zu kalt für die Pflanzen. Das ist der Grund, aus dem Ulf Witting seine Heimat Schleswig-Holstein vor zehn Jahren verlassen hat.

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Witting hört interessiert zu, was seine Gäste berichten. Das Problem, ineffizient zu arbeiten, kennt er selbst gut. Die Karte mit den fünf Zonen auf dem Monitor in seiner Treckerkabine etwa sei „noch relativ großräumig“. Besser wären 15 oder 25 Einheiten. Als Betriebsleiter gebe er den Stick mit den Aufträgen für den Bordcomputer meist seinen Mitarbeitern weiter, sitze inzwischen weniger auf den Maschinen. Aber er wolle immer auf dem Stand der Technik bleiben, „ich möchte alles noch bedienen können, in allen Details“, sagt er. Ob er sich dem Artifarm-Bündnis anschließen wird? Ulf Witting überlegt. Aber noch wartet er ab.

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