Freytags-Frage

30 Jahre Deutsche Einheit – ist das Glas halb leer oder halb voll?

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Auch der Osten beheimatet nun großartige Unternehmen

Dennoch sollte das Ergebnis dieses schnellen Einigungsprozesses nicht kleingeredet werden. obwohl es nach der Begeisterung schnell zur Ernüchterung kam. Fast die gesamte DDR-Wirtschaft hatte kurze Zeit später aufgehört zu existieren. Es gab viel Ärger um die Treuhandanstalt und ihre Privatisierungsstrategien, die natürlich geprägt waren von der bereits erwähnten Überschätzung der Produktivität der DDR-Betriebe. Einen Ausverkauf oder gar eine Verschwörung kann man dieser Institution indes nicht vorwerfen. Sie hatte einfach nicht viele attraktive Betriebe zu verkaufen. Natürlich machte die Treuhand Fehler, und es gab windige Käufer, die nur am kurzfristigen Gewinn interessiert waren. Aber es gab auch viele positive Beispiele, darunter etliche Unternehmen, die von der Betriebsleitung übernommen (sogenannte Management-Buy-Outs) und erfolgreich in die Zukunft geführt wurden.

Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern stieg schnell und wurde anschließend nur langsam abgebaut. Für Menschen ab 50 war es im Durchschnitt schwer, einen neuen Arbeitsplatz unter den neuen Bedingungen zu finden; Jüngere hatten es da deutlich leichter – viele von ihnen gingen zudem in den Westen. Aber auch diese Entwicklung war angesichts der geringen Wettbewerbsfähigkeit ostdeutscher Betriebe auf dem nun für nicht länger abgeschotteten Markt zunächst kaum zu verhindern. Dazu hätten die Löhne in den neuen Ländern weit unter den westdeutschen Löhnen bleiben und/oder der Umtauschkurs zwischen DDR-Mark und D-Mark ein ganz anderer sein müssen, beispielweise 5:1. Beides war weder gewollt (und fair) noch politisch durchsetzbar. Hinzu kam, dass weder die Arbeitgeberverbände noch die Gewerkschaften im Westen ein übermäßiges Interesse an konkurrenzfähigen Unternehmen im Osten hatten und deshalb auch für starke Lohnerhöhungen dort plädierten. Neben diese unvermeidbaren und interessengetriebenen Entwicklungen traten wirtschaftspolitische Fehler wie die Subventionierung von Kapitalanlagen in den neuen Ländern, die den Einsatz von nun teurer werdender Arbeit für Unternehmen noch unattraktiver machte, oder die relativ unkritische Übernahme aller bundesrepublikanischen Regulierungen auch für die neuen Länder. Hier wäre eine Übergangsphase vermutlich viel besser gewesen – dann hätte man einiges Bewährtes aus den ostdeutschen Ländern übernehmen können.

Die zehn besten Städte Deutschlands
Städteranking 2019: Würzburg auf Platz 10 im Niveauranking Quelle: imago images
Städteranking 2019: Hamburg auf Platz 9 im Niveauranking Quelle: dpa
Städteranking 2019: Ulm auf Platz 8 im Niveauranking Quelle: imago images
Städteranking 2019: Wolfsburg auf Platz 7 im Niveauranking Quelle: dpa
Städteranking 2019: Regensburg auf Platz 6 im Niveauranking Quelle: imago images
Städteranking 2019: Frankfurt am Main auf Platz 5 im Niveauranking Quelle: dpa
Städteranking 2019: Ingolstadt auf Platz 4 im Niveauranking Quelle: imago images

Heute sieht die Lage gerade in den neuen Ländern allerdings viel besser aus. Die Arbeitslosigkeit ist kaum höher als im bundesdeutschen Durchschnitt und niedriger als in manchen strukturschwachen Regionen im Westen. Die Infrastruktur ist weitgehend erneuert, die Städte renoviert und sehr ansehnlich. Auch der Osten beheimatet nun großartige Unternehmen, die sich auf ihren Märkten weltweit sehr erfolgreich behaupten. Natürlich ist es nachteilig, dass die Hauptquartiere großer und forschungsstarker Unternehmen nach wie vor zum überwiegenden und überproportionalen Anteil in Westdeutschland ihren Sitz haben, weswegen die gesamtwirtschaftliche Produktivität im Westen nach wie vor um die 20 Prozent höher ist als im Osten – trotz individuell genauso produktiver Arbeitskräften sind die Löhne entsprechend niedriger. Es wäre auch besser, wenn mehr gesamtdeutsche Führungskräfte eine ostdeutsche Biographie aufwiesen.

Es besteht allerdings die Hoffnung, dass Unternehmen, die in den letzten dreißig Jahren in Ostdeutschland gegründet worden sind, weiter wachsen und zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität beitragen können. Auch kann man erwarten, dass die Verteilung der Führungskräfte in Unternehmen und Ministerien sich ändert, wenn die jetzige Kohorte, die zumeist ihre Ausbildung vor 1990 (und im Westen) abgeschlossen hat, in den Ruhestand geht. Dann dürfte die Herkunft (Ost oder West) keine Rolle mehr spielen; es wird dann hoffentlich nach Qualifikation ausgewählt. In dieser Hinsicht müssen sich die jungen Leute aus dem Osten nicht verstecken.

Bleibt noch die Frage nach der Wertschätzung ost- oder westdeutscher Lebensleistungen. Es steht wohl unzweifelhaft fest, dass die Einheit im Osten ihren Ursprung nahm. Für die meisten Deutschen dürfte außerdem feststehen, dass die Anpassungslasten der Einheit vor allem von Menschen aus den neuen Ländern getragen wurden – für (junge) Westdeutsche ergaben sich damals vor allem neue Möglichkeiten in einem aus ihrer Perspektive größeren Deutschland. Sich dessen bewusst zu sein, ist sicher nicht immer leicht, sollte aber mit einigem Nachdenken gelingen. Eine Generation nach dem Mauerfall sollte es auch möglich sein, die DDR-Geschichte und das Unrecht, das viele Menschen erlitten haben, gleichzeitig nüchtern und mit Hilfe von Zeitzeugen umfassend aufzuarbeiten. Der Wunsch danach ist überall in Deutschland nach wie vor dringend.


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In der Rückschau hätte man einiges während des Prozesses der Wiedervereinigung besser machen können, zu vielem anderen (darunter die Währungsumstellung) gab es vermutlich keine Alternative. Man muss den Akteuren in Ost und West zugestehen, dass sie mit der neuen Situation zum Teil auch überfordert waren, denn die friedliche Revolution brach doch sehr unvermittelt über beide Teile Deutschlands herein. Der Vereinigungsprozess fand atemberaubend schnell statt. Für alle Deutschen haben sich die Optionen im Herbst 1989 erweitert – für die meisten war das eine Chance, für einige aber auch eine Bedrohung. Es wäre wichtig, sich daran zu erinnern und die Erfahrungen der anderen (wer auch immer das ist!) zu würdigen – der Tag der deutschen Einheit 30 Jahre danach bietet dazu die passende Gelegenheit. Uns verbindet mehr, als uns trennt! In diesem Sinne ist das Glas mehr als halb voll.

Mehr zum Thema: Blick hinter die Zahlen – beim Geld ist Deutschland noch geteilt.

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