Freytags-Frage

Darf der Staat seine Bürger zum Glück zwingen?

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Aufklären statt Einmischen

Das legt auch die Reaktion einiger Regierungen nahe. Denn wie nicht anders zu erwarten, hat die Politik diese Ideen begeistert aufgegriffen, zeigen sie doch, wie die Politik sich segensreich für die Menschen einsetzen kann. In Großbritannien und den USA haben die Regierungen geprüft, wie sie das Leben ihrer Bürger mit kleinen Schubsern verbessern können.

Auch in Deutschland wird seit einigen Wochen daran gearbeitet, Politik wirksamer zu machen, ohne dass der Begriff “Nudge“ verwendet wird. Drei Mitarbeiter im Kanzleramt bilden eine Projektgruppe „Wirksam regieren“. Die Idee, Politik besser zu vermitteln und damit die Ziele wirksamer zu erreichen, ist generell gut. Dennoch sollte man achtsam bleiben. Die beste Methode, Politik wirksam zu machen, ist eine überzeugende Begründung (und damit eng verbunden eine hohe Qualität der Politik). Die Mietpreisbremse wird wohl nicht im Sinne der Mieter wirken, da kann man schubsen, soviel man will!

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Zum Verständnis der möglichen Problematik dieser neuen Projektgruppe hilft vielleicht ein Beispiel, dieses Mal der Energieverbrauch. Es ist erklärtes Ziel der deutschen Politik, den Verbrauch fossiler Energie zu senken. Das macht Sinn, dürfte aber auch im individuellen Interesse jedes Bürgers liegen, denn Energiesparen senkt die Kosten. Zur Sensibilisierung wird für jedes Gebäude ein Energiepass erstellt, der deutlich macht, ob und inwieweit das Gebäude Energie wirksam nutzt. Solange nur diese Information bereitgestellt wird, ist alles in Ordnung. Der Bewohner kann dann selbst sein Verhalten steuern. Wenn aber die Politik daraus den Schluss zieht, bestimmtes Verhalten vorzugeben und z.B. jedem Käufer eines Hauses automatisch einen Kreditvertrag zur Finanzierung von Dämmstoffen an die Hand zu geben, den dieser dann selber kündigen muss, wird eine Grenze überschritten. Dieses Beispiel ist zugebenermaßen etwas realitätsfern, aber nicht völlig fern jeder Vorstellung (es gibt den automatischen Organpass ja bereits in einigen Ländern).

Auf dem Weg in den Totalitarismus

Es muss aber erlaubt bleiben, Energie zu verschwenden, wenn der Betroffene die Kosten selber trägt (oder will die Regierung schnelle Autos verbieten?). Wenn es um Externalitäten geht, hilft eine Pigou-Steuer zusätzlich zu den Energiekosten. Aber es darf nicht sein, dass Menschen zu ihrem Glück (in diesem Fall eine niedrige Energierechnung) gezwungen werden. Es mag ja Menschen geben, die durch eine Dämmung krank werden; sie wollen eine gut belüftete Wohnung haben und nehmen Mehrkosten in Kauf. Auch hier gilt, dass Aufklärung zum eigenverantwortlichen Handeln beiträgt.

Insgesamt beunruhigt die Idee des Nudging. Sie ist mit Sicherheit paternalistisch; ob sie libertär ist, kann bezweifelt werden, sie scheint noch nicht einmal liberal zu sein. In einer offenen Gesellschaft freier Menschen muss jede(r) allein darüber befinden dürfen (und – das kommt mit der Freiheit – müssen), wie sie oder er lebt. Ungesundes Essen oder ein hoher Energieverbrauch muss erlaubt sein; die Konsequenzen trägt ja schließlich die Betroffene. Je mehr sich Regierungen direkt um das Glück der Menschen kümmern wollen, desto unfreier werden diese.

Eine Gesellschaft, in der die Politik sich direkt in das Glück der Bürger einzumischen versucht, anstatt die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass jeder seines eignen Glückes Schmied sein kann, ist auf dem Weg in den Totalitarismus – oder wie es im Englischen so schön heißt: „The road to hell is paved with good itentions“ („Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“).

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