Freytags-Frage

Haben Martin Schulz und Jean-Claude Juncker nichts verstanden?

Der europäische Binnenmarkt ist eines der größten wirtschaftspolitischen Erfolgsprojekte der Menschheit. Doch eine weitere Vertiefung der EU schadet nun mehr als sie nützt. Wie Europas Zukunft aussehen kann.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Juncker, Schulz Quelle: dpa

Seit der Entscheidung der britischen Bevölkerung für den Brexit am vergangenen Donnerstag sind sehr viele Kommentare, Erklärungen und Vorschläge zur Zukunft der Europäischen Union (EU) abgegeben worden; es gab einige Drohungen gegen das Vereinigte Königreich.

Besonders interessant war die Reaktion der Spitze der europäischen Institutionen, insbesondere vom Kommissionspräsidenten und vom Parlamentspräsidenten. Wutschnaubend sei Martin Schulz gewesen; er verlangte eine schnelle Aufnahme der Austrittsverhandlungen, als ob er die Briten gar nicht schnell genug loswerden könnte.

Jean-Claude Juncker hat in seiner ersten Stellungnahme wieder die europäischen Werte betont und die weitere Vertiefung verlangt. In einer nachgeschobenen Stellungnahme war sogar von der Vollendung der Währungsunion die Rede.

Die Reaktion dieser Politiker ist einigermaßen verstörend.

Großbritannien und die EU - eine schwierige Beziehung

Gesinnungsethik vor Verantwortungsethik

Sie erinnert ein wenig an die DDR-Regierung im Oktober 1989, als Erich Honecker zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR seinen putzigen Satz „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“ vortrug. Diese reflexhaft vorgetragene Vertiefungsrhetorik macht Sorgen: Offenbar zählt in Brüssel Gesinnungsethik mehr als Verantwortungsethik und werden recht deutliche Signale schlicht überhört.

Um nicht missverstanden zu werden: Die europäische Integration ist ein erfolgreiches Freiheits- und Friedensprojekt – und gerade kein Sozialismus, wie manche behaupten.

Der Frust der Brexit-Verlierer
Afrin (l.), 17 Jahre, und Anjum (r.), 16 Jahre, halten ein Transparent mit dem Slogan in die Höhe: „Ihr habt unsere Zukunft gestohlen“. Sie ärgern sich, dass sie bei der Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft nicht mitstimmen durften. Quelle: Yasmin Osman
Neben Schülern und Studenten haben sich auch junge Familien vor dem Parlament eingefunden. Francis Young und seine Frau Rachel bedauern den Brexit, weil die EU in ihren Augen ein „großartiges Friedensprojekt“ ist. Quelle: Yasmin Osman
Gerade viele Städter in Großbritannien mögen sich mit dem Ergebnis des Referendums nicht abfinden, darunter auch George Mouskoundi. Er fürchtet um die Zukunft seiner Kinder Betty (r.) und Micah, weil ein Brexit der Wirtschaft Großbritanniens schaden könnte. Quelle: Yasmin Osman
Auch diese junge Britin fürchtet die wirtschaftlichen Folgen eines EU-Austritt Großbritanniens – und die Konsequenzen auf ihre berufliche Zukunft, wie sie erzählt. Quelle: Yasmin Osman
Land gegen Stadt, alt gegen jung, arm gegen gut situiert. Das Referendum zeigt einen tiefen Riss in der britischen Bevölkerung. Und weil der Vorsprung der Brexit-Befürworter relativ knapp war, fällt es dem unterlegenen Pro-EU-Lager umso schwerer, das Abstimmungsergebnis zu akzeptieren. Quelle: Yasmin Osman
Weil die Befürworter einer EU-Mitgliedschaft Großbritanniens den Vorsprung der Brexit-Befürworter als knapp empfinden, läuft derzeit eine Petition, die ein Gesetz fordert, wonach ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft wiederholt werden sollte – wenn die Wahlbeteiligung unter 75 Prozent oder das Ergebnis eines Ausstiegs weniger als 60 Prozent betragen sollte. Bis Sonntagmorgen unterzeichneten knapp 2,9 Millionen Stimmberechtigte diese Petition. Quelle: Yasmin Osman
Viele junge Briten sind wütend über das Ergebnis der Abstimmung – allerdings blieben gerade aus der jungen Generation viele Wahlberechtigte der Wahlurne fern. Quelle: Yasmin Osman

Sie zu bewahren ist für die Zukunft des Kontinents lebenswichtig. Allerdings gibt es sehr verschiedene Herangehensweisen an diese Aufgabe. Zwei extreme Narrative konkurrieren hier grundsätzlich, irgendwo zwischen ihnen liegt die richtige Entwicklung, um die es zu ringen gilt:

Das erste Narrativ beginnt regelmäßig mit dem Europa der Väter und den europäischen Werten. Um diese dauerhaft zu bewahren, darf es keinen Stillstand geben, so die Erzählung. Sie endet ebenso regelmäßig in der Forderung der Vergemeinschaftung von immer mehr Politikbereichen in einer politischen Union.

„Wir hier drinnen gegen die da draußen!“

Das entgegengesetzte Narrativ sieht in der EU einen Leviathan, einen krakengleichen Moloch, der die Menschen versklavt; Entscheidungen werden in Brüssel getroffen, die Menschen vor Ort hätten sie entgegenzunehmen; demokratisch sei das schon lange nicht mehr. Dieses Narrativ erträumt eine goldene Welt außerhalb der EU, im britischen Fall mit Freihandel ohne Freizügigkeit, im französischen (Le Pen) Fall Wohlstand ohne Importe: „Wir hier drinnen gegen die da draußen“!

Beide Narrative sind Zerrbilder. Richtig ist, dass es in Europa gelungen ist, sogenannte Erbfeinde zu befrieden; ihr Wettstreit findet auf Märkten für Güter und Dienstleistungen (und auf dem Fußballfeld) statt. Richtig ist auch, dass Länder mit völlig unterschiedlichen Vorstellungen einer angemessenen Wirtschaftsordnung, zum Beispiel Deutschland und Frankreich, sich in diesem fairen Wettstreit auf Märkten miteinander messen und dabei zu ähnlichem Wohlstand gekommen sind.

Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid

Es ist wahrscheinlich gerade diese Verschiedenheit und ihre Akzeptanz, die die großartige Entwicklung eines Kontinents mit einer nie dagewesenen Friedensperiode ermöglicht hat. Richtig ist aber auch, dass die EU den europäischen Gedanken mit den Nationalstaaten versöhnt hat. Sie hat die Nationen aber nicht ersetzt.

Höhepunkt der Völkerverständigung

Während wir früher Bretonen und Franzosen, Holsteiner und Deutsche waren, sind wir heute zusätzlich noch Europäer. Deshalb stimme ich auch nicht mit dem lesenswerten Text von Navid Kermani, überschrieben mit „Auf Kosten unser Kinder“ überein. Während man emotional dem Wunsch des Autors nach Vertiefung folgen mag, ist er analytisch zu leicht, weil die Menschen immer noch eher nationale als europäische Öffentlichkeit sind.

Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Stellen Sie sich vor, bei der Fußball-Weltmeisterschaft spielt nur noch eine europäische „Nationalmannschaft“, wären Sie ihr Fan?

Aus heutiger Sicht markiert die Errichtung des Europäischen Binnenmarktes einen Höhepunkt der europäischen Völkerverständigung, die gerade durch die Freizügigkeit vertieft wurde. Denn nur, wenn die Menschen sich begegnen, zusammen arbeiten, studieren und leben, bauen sie die Vorbehalte ab. Der Binnenmarkt ist mehr als ein rein wirtschaftliches Unterfangen; friedliche Konkurrenz ist auch eine große Kulturleistung.

Die Zustimmung zur EU war in den Neunzigerjahren umfassend und wurde nicht in Frage gestellt. Das müssen wir den heutigen Nationalisten von links und rechts entgegensetzen.

„Weiter so!“ kann nicht funktionieren

Die Errichtung der Europäischen Währungsunion hat dieses Gleichgewicht in Frage gestellt. Denn nun wurde den verschiedenen Wirtschaftsordnungen ein gemeinsames Geld verpasst, ein wenig wohl in der Hoffnung, dass es für alle vorteilhaft sei, wenn das deutsche Modell dem Rest Europas geschenkt würde. Die anderen würden die Vorteile erkennen und ihre Wirtschaftsordnung entsprechend anpassen.

Das ist aber nicht passiert, aus demselben guten Grund, wie die Deutschen ihre Ordnung nicht aufgeben wollten. Stattdessen brechen alte Konfliktlinien wieder auf: Deutsche schimpfen auf Griechen und Franzosen, Briten lästern über Deutsche.

Gleichzeitig bestehen fundamentale Unterschiede in der Haltung zur Flüchtlingskrise, zur Sicherheitspolitik und zum Klimawandel.

Die wichtigsten Infos zum Brexit-Referendum

Während diese Fragen wegen der Spillovers dringend europäische Lösungen benötigen (aber nicht bekommen), müssten Arbeitsmarkt-, Fiskal- und Sozialpolitik gerade nicht harmonisiert werden. Auch in der Geldpolitik besteht diese Notwendigkeit theoretisch nicht.

Anti-EU-Befindlichkeiten bekämpfen

Vor diesem Hintergrund scheint es gerade nicht so zu sein, dass ein „Weiter so!“ oder eine unkritische Vertiefung der EU im Moment das Gebot der Stunde ist. Schulz und Juncker scheinen zu übersehen, dass ein großer Teil der Anti-EU-Befindlichkeiten gerade daraus erwachsen, dass die Leute glauben, fremdbestimmt zu sein. Das liegt auch daran, dass die Entscheidungsprozesse in der EU nur schwer nachvollziehbar sind. Was aus Brüssel an Richtlinien und Gesetzesvorlagen zu uns kommt, ist oftmals von nationalen Regierungen vorgeschlagen worden (zuhause war es aber nicht umsetzbar).

Wo die großen Brexit-Baustellen sind

Je nachdem, ob die Leute die Regeln mögen nicht, werden sie von den Regierungen als das Ergebnis ihres Handelns oder aber als Diktat aus Brüssel verkauft. Dies kann als ein drittes Narrativ angesehen werden, das verheerende Folgen hat; vermutlich war es auch der Treiber des Brexit.

Deshalb ist das Gebot der Stunde eine ergebnisoffene Diskussion über die Zukunft der Tiefe der EU – die Zukunft der EU steht außer Frage. Dazu zählt auch eine ehrliche Bestandaufnahme des Erreichten. Bewertungsmaßstab kann das Subsidiaritätsprinzip sein, das heißt es muss genau geprüft werden, was auf welcher Ebene entschieden wird.

Wie wahrscheinlich sind Austritte weiterer EU-Länder?
Die Chefin der rechtsextremen Front National, Marine Le Pen Quelle: dpa
Chef der rechtspopulistischen Partei für die Freiheit, Geert Wilders Quelle: AP
Anhänger der ungarischen, rechtsextremen Partei Jobbik verbrennen eine EU-Flagge Quelle: dpa
FPÖ-Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer mit dem ehemaligen Präsidenten Österreichs, Heinz Fischer Quelle: REUTERS
Finnland Quelle: dpa
PolenWährend die nationalkonservative Warschauer Regierung betont, sie werde keinesfalls dem Vorbild in Großbritannien folgen, haben verschiedene rechtspopulistische und nationalistische Gruppen einen „Pol-Exit“ verlangt. So ist der rechtsnationale Europaabgeordnete Janusz Korwin-Mikke von der Partei Korwin seit langem der Meinung, die EU müsse aufgelöst werden. Den Einzug ins Warschauer Parlament verfehlte er allerdings im vergangenen Jahr. Angesichts der hohen Zustimmung, die die EU-Zugehörigkeit in Polen seit Jahren genießt, dürfte ein Referendum ohnehin zum Scheitern verurteilt sein. Ein landesweites Referendum kann in Polen unter anderem dann durchgesetzt werden, wenn die Antragsteller 500.000 Unterschriften sammeln. Quelle: REUTERS
Italiens Regierungschef Matteo Renzi Quelle: dpa

Dazu muss Transparenz über die Verteilung der Entscheidungskompetenzen geschaffen werden. Vielleicht muss man sogar hinter das Erreichte in einigen Feldern zurückfallen. Dies dürfte kein Problem sein, wenn es der Integration insgesamt diente.

Ochs und Esel können die EU nicht aufhalten, falsch verstandene Imperative und schlecht vorbereitete Vertiefungsschritte allerdings sehr wohl.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%