Seit der Entscheidung der britischen Bevölkerung für den Brexit am vergangenen Donnerstag sind sehr viele Kommentare, Erklärungen und Vorschläge zur Zukunft der Europäischen Union (EU) abgegeben worden; es gab einige Drohungen gegen das Vereinigte Königreich.
Besonders interessant war die Reaktion der Spitze der europäischen Institutionen, insbesondere vom Kommissionspräsidenten und vom Parlamentspräsidenten. Wutschnaubend sei Martin Schulz gewesen; er verlangte eine schnelle Aufnahme der Austrittsverhandlungen, als ob er die Briten gar nicht schnell genug loswerden könnte.
Jean-Claude Juncker hat in seiner ersten Stellungnahme wieder die europäischen Werte betont und die weitere Vertiefung verlangt. In einer nachgeschobenen Stellungnahme war sogar von der Vollendung der Währungsunion die Rede.
Zudem kündigte Juncker an, das umstrittene CETA-Abkommen an den nationalen Parlamenten vorbei beschließen zu wollen. Ähnlich liest sich das Positionspapier von Martin Schulz und Sigmar Gabriel, das unter dem Titel „Europa neu gründen“ vor allem mehr Ressourcen zentral verausgaben und den Wachstumsaspekt des Stabilitäts- und Wachstumspaktes stärken will.
Die Reaktion dieser Politiker ist einigermaßen verstörend.
Großbritannien und die EU - eine schwierige Beziehung
Seit mehr als 43 Jahren sind die Briten Mitglied der Europäischen Union. Doch jetzt ist der Austritt beschlossene Sache. Schwierig waren die Beziehungen von Anfang an. Ein Rückblick:
Als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird auf Initiative Londons die Europäische Freihandelszone (EFTA) gegründet, die keine politische Integration anstrebt.
Der französische Präsident Charles de Gaulle legt sein Veto gegen eine Mitgliedschaft der Briten in der EWG ein. 1973 tritt Großbritannien schließlich doch bei.
Erst nachdem Premier Harold Wilson die Vertragsbedingungen nachverhandelt hat, sprechen sich die Briten in einem Referendum mit 67,2 Prozent für einen Verbleib in der Gemeinschaft aus.
Mit den legendären Worten „I want my money back“ (Ich will mein Geld zurück) handelt die konservative britische Premierministerin Margaret Thatcher den sogenannten Britenrabatt aus. London muss fortan weniger in den Haushalt der Europäischen Gemeinschaft (EG) einzahlen.
EG-Länder beschließen im Schengener Abkommen die Aufhebung der Passkontrollen an den Binnengrenzen. Großbritannien macht nicht mit.
Der britische Premier John Major kündigt eine europafreundliche Politik seiner Konservativen Partei an, scheitert damit aber parteiintern. Er handelt aus, dass London nicht am Europäischen Währungssystem teilnimmt.
Der britische Premier Tony Blair gerät mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac über ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ in Streit.
Blair lässt einen EU-Gipfel zum mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union (EU) scheitern, stimmt Monate später aber doch zu und akzeptiert ein Abschmelzen des Britenrabatts.
Mit Inkrafttreten des EU-Vertrages von Lissabon kann London wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkt die britische Regierung den Ausstieg aus mehr als 100 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag.
Der britische Premier David Cameron verweigert seine Zustimmung zum EU-Fiskalpakt.
Cameron droht mit einem Veto bei den Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU.
Cameron kündigt eine Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der EU bis spätestens 2017 an. Bis dahin will er die Rolle seines Landes in der EU neu aushandeln und Befugnisse aus Brüssel nach London zurückholen.
London blockiert den Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion und lehnt grundsätzlich Doppelstrukturen von EU und Nato ab.
Nach Zugeständnissen der EU kündigt Cameron für den 23. Juni ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU an.
Bei der Volksabstimmung votieren fast 52 Prozent der Briten für den Austritt.
Gesinnungsethik vor Verantwortungsethik
Sie erinnert ein wenig an die DDR-Regierung im Oktober 1989, als Erich Honecker zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR seinen putzigen Satz „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“ vortrug. Diese reflexhaft vorgetragene Vertiefungsrhetorik macht Sorgen: Offenbar zählt in Brüssel Gesinnungsethik mehr als Verantwortungsethik und werden recht deutliche Signale schlicht überhört.
Um nicht missverstanden zu werden: Die europäische Integration ist ein erfolgreiches Freiheits- und Friedensprojekt – und gerade kein Sozialismus, wie manche behaupten.
Sie zu bewahren ist für die Zukunft des Kontinents lebenswichtig. Allerdings gibt es sehr verschiedene Herangehensweisen an diese Aufgabe. Zwei extreme Narrative konkurrieren hier grundsätzlich, irgendwo zwischen ihnen liegt die richtige Entwicklung, um die es zu ringen gilt:
Das erste Narrativ beginnt regelmäßig mit dem Europa der Väter und den europäischen Werten. Um diese dauerhaft zu bewahren, darf es keinen Stillstand geben, so die Erzählung. Sie endet ebenso regelmäßig in der Forderung der Vergemeinschaftung von immer mehr Politikbereichen in einer politischen Union.
„Wir hier drinnen gegen die da draußen!“
Das entgegengesetzte Narrativ sieht in der EU einen Leviathan, einen krakengleichen Moloch, der die Menschen versklavt; Entscheidungen werden in Brüssel getroffen, die Menschen vor Ort hätten sie entgegenzunehmen; demokratisch sei das schon lange nicht mehr. Dieses Narrativ erträumt eine goldene Welt außerhalb der EU, im britischen Fall mit Freihandel ohne Freizügigkeit, im französischen (Le Pen) Fall Wohlstand ohne Importe: „Wir hier drinnen gegen die da draußen“!
Beide Narrative sind Zerrbilder. Richtig ist, dass es in Europa gelungen ist, sogenannte Erbfeinde zu befrieden; ihr Wettstreit findet auf Märkten für Güter und Dienstleistungen (und auf dem Fußballfeld) statt. Richtig ist auch, dass Länder mit völlig unterschiedlichen Vorstellungen einer angemessenen Wirtschaftsordnung, zum Beispiel Deutschland und Frankreich, sich in diesem fairen Wettstreit auf Märkten miteinander messen und dabei zu ähnlichem Wohlstand gekommen sind.
Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid
„Wir müssen einen sanften Übergang in eine neue wirtschaftliche Beziehung sicherstellen. Der IWF unterstützt die Bank von England und die Europäische Zentralbank darin, für die nötige Liquidität des Bankensystems zu sorgen und Schwankungen nach der Abstimmung zu begrenzen.“
„Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor.“
„Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“
„Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten.“
„Nach einem EU-Austritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern.“
„Es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden.“
„Weniger Wirtschaftswachstum in den EU-Staaten und ein schwächeres Exportgeschäft werden die Konsequenzen sein.“
„Die EU-Staats- und Regierungschefs müssen schnell die dringend erforderlichen Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Fairness im EU-Binnenmarkt in Angriff nehmen.“
"Es kommt jetzt darauf an, ob wir eine saubere oder eine schmutzige Scheidung bekommen. Es geht vor allem darum, ob Großbritannien nach einem Verlassen der EU den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält. Wichtig ist, dass die EU jetzt nicht die beleidigte Leberwurst spielt. Sie sollte ein starkes Interesse daran haben, mit den Briten in den kommenden zwei Jahren eine saubere Trennung zu vereinbaren. Das Land ist zweitwichtigster Handelspartner der EU, nach den USA und vor China. Die EU hat ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu behalten.
Der Brexit stellt auch ein politischen Risiko für die EU dar. Denn das wird den Anti-EU-Parteien in vielen EU-Ländern Rückenwind geben. Die Regierungen werden noch weniger als bisher mehr Europa wagen, so dass die Probleme der Währungsunion weitgehend ungelöst bleiben. Was die EZB mehr denn je zwingt, die Probleme durch eine lockere Geldpolitik zu übertünchen.
Der Brexit schafft Unsicherheit und ist insofern schlecht für die deutsche Wirtschaft. Aber wir erwarten nicht, dass der Euro-Raum in die Rezession zurückfällt. Das gilt auch für Großbritannien und erst recht für den Fall, dass sich allmählich eine saubere Scheidung abzeichnet."
"Jetzt kommt eine große Phase der absoluten Unsicherheit. Denn etwas Vergleichbares hatten wir noch nicht. Unsicherheit ist schlecht für die Wirtschaft." Der Aufschwung in Großbritannien dürfte nun weitgehend zu Ende sein, in der Euro-Zone werde er sich abschwächen. Hersteller von Investitionsgütern wie Maschinen und Autos dürften die Folgen stärker spüren. "Deutschland ist also stärker betroffen als beispielsweise Spanien", sagte Schmieding.
"Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft", sagte er. "Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt." Es sei wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibe.
"Die Finanzmärkte werden einige Tage brauchen, um den Schock zu verarbeiten. Die Politik muss jetzt versuchen, das Beste aus einer Entscheidung zu machen, die die EU schwächt. Das wird lange brauchen. Und so lange wird Unsicherheit das Geschehen prägen, zumal die Fliehkräfte in anderen EU-Ländern stärker zutage treten werden. Das Ergebnis kann auch die Nicht-Mainstream-Parteien in Spanien stärken, wo am Sonntag gewählt wird. Bis gestern hatte Europa ein Problem, jetzt ist erst mal Panik."
"Das Ergebnis des Referendums ist kein gutes Signal für Europa. Aber es ist vor allem kein gutes Signal für Großbritannien. Die politischen Strukturen der EU sind stark. Und anders als bei einem 'Grexit', also dem Ausscheiden eines Landes aus der Währungsunion, für das es keine rechtliche Grundlage gibt, ist die Prozedur für das Ausscheiden eines Landes aus der EU rechtlich klar geregelt. Die Folgen für den europäischen Integrationsprozess werden weniger gravierend sein, als jetzt oft vorschnell beschrieben. Auch wenn es schwierig wird: Die EU kann einen Austritt Großbritanniens verkraften.
Innerhalb Europas sollte der Fokus der nächsten Monate auf der Vertiefung des Euro-Raums liegen. Die Euro-Krise ist immer noch nicht ausgestanden. Die EZB hat die Grenze ihres Mandats erreicht. Nun müssen sich die Euro-Länder so schnell wie möglich auf einen Stabilisierungsplan einigen, der sowohl mehr Risikoteilung (vor allem schwierig für Deutschland) als auch mehr Souveränitätsteilung (vor allem schwierig für Frankreich) umfasst. Allerdings ist für einen solchen Plan kaum Zeit."
"Jetzt wird es turbulent an den Finanzmärkten. Das Pfund ist bereits auf einem 30-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar. In absehbarerer Zeit sollten wir aber wieder eine Erholung sehen. Die Finanzmärkte fragen sich jetzt: Wie sieht das neue Verhältnis zwischen EU und Großbritannien aus? Die Briten könnten künftig Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden, wie Norwegen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Verhältnis EU-Großbritannien damit beendet ist. Die EU wird das Land nicht am langen Arm verhungern lassen.
Mit dem heutigen Tag ändert sich erst einmal gar nichts. Es wird jetzt Verhandlungen mit der EU geben. So lange bleibt GB Vollmitglied der EU, also die nächsten zwei Jahre. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verändern wird. Die Briten dürften es aber merken: Die dortigen Unternehmen dürften jetzt Investitionen überdenken. Aber ich denke nicht, dass das Land nun in eine Rezession fällt."
Es ist wahrscheinlich gerade diese Verschiedenheit und ihre Akzeptanz, die die großartige Entwicklung eines Kontinents mit einer nie dagewesenen Friedensperiode ermöglicht hat. Richtig ist aber auch, dass die EU den europäischen Gedanken mit den Nationalstaaten versöhnt hat. Sie hat die Nationen aber nicht ersetzt.
Höhepunkt der Völkerverständigung
Während wir früher Bretonen und Franzosen, Holsteiner und Deutsche waren, sind wir heute zusätzlich noch Europäer. Deshalb stimme ich auch nicht mit dem lesenswerten Text von Navid Kermani, überschrieben mit „Auf Kosten unser Kinder“ überein. Während man emotional dem Wunsch des Autors nach Vertiefung folgen mag, ist er analytisch zu leicht, weil die Menschen immer noch eher nationale als europäische Öffentlichkeit sind.
Stellen Sie sich vor, bei der Fußball-Weltmeisterschaft spielt nur noch eine europäische „Nationalmannschaft“, wären Sie ihr Fan?
Aus heutiger Sicht markiert die Errichtung des Europäischen Binnenmarktes einen Höhepunkt der europäischen Völkerverständigung, die gerade durch die Freizügigkeit vertieft wurde. Denn nur, wenn die Menschen sich begegnen, zusammen arbeiten, studieren und leben, bauen sie die Vorbehalte ab. Der Binnenmarkt ist mehr als ein rein wirtschaftliches Unterfangen; friedliche Konkurrenz ist auch eine große Kulturleistung.
Die Zustimmung zur EU war in den Neunzigerjahren umfassend und wurde nicht in Frage gestellt. Das müssen wir den heutigen Nationalisten von links und rechts entgegensetzen.
„Weiter so!“ kann nicht funktionieren
Die Errichtung der Europäischen Währungsunion hat dieses Gleichgewicht in Frage gestellt. Denn nun wurde den verschiedenen Wirtschaftsordnungen ein gemeinsames Geld verpasst, ein wenig wohl in der Hoffnung, dass es für alle vorteilhaft sei, wenn das deutsche Modell dem Rest Europas geschenkt würde. Die anderen würden die Vorteile erkennen und ihre Wirtschaftsordnung entsprechend anpassen.
Das ist aber nicht passiert, aus demselben guten Grund, wie die Deutschen ihre Ordnung nicht aufgeben wollten. Stattdessen brechen alte Konfliktlinien wieder auf: Deutsche schimpfen auf Griechen und Franzosen, Briten lästern über Deutsche.
Gleichzeitig bestehen fundamentale Unterschiede in der Haltung zur Flüchtlingskrise, zur Sicherheitspolitik und zum Klimawandel.
Die wichtigsten Infos zum Brexit-Referendum
Brexit ist ein Kunstwort aus Britain und Exit (Austritt). Im Juni 2012 schrieb das britische Magazin "Economist" erstmals von der Möglichkeit eines "Brixit". Danach etablierte sich in der Presse die Version "Brexit". Vorbild dieser Wortschöpfung war der Begriff "Grexit", der sich auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise etablierte. Gemeint war damit aber nur das - mögliche - Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone.
Die Abstimmung wurde den Wählern von Premier David Cameron versprochen - seine Tory-Partei war damit in den Wahlkampf zur Unterhauswahl 2015 gezogen. Cameron, der selbst für die EU-Mitgliedschaft eintritt, wollte parteiinternen EU-Skeptikern damit den Wind aus den Segeln nehmen. Schon seit Jahren gab es parteiintern die Forderung nach einer Befragung des Volkes zum Verbleib in der EU. Die Unzufriedenheit mit der Zuwanderungspolitik der europäischen Partner bestärkte viele Briten in ihrer Ablehnung gegenüber der EU. Der Kampagne war ein Machtkampf mit der Europäischen Union voraus gegangen. Bereits 2011 hatte Cameron seine Zustimmung zum EU-Fiskalpakt verweigert und kurz darauf mit einem Veto zur mittelfristigen Finanzplanung der EU gedroht. In harten Verhandlungen rang Cameron den europäischen Partnern Zugeständnisse ab, etwa beim für den Finanzplatz London so wichtigen Thema der Bankenregulierung.
Befürworter eines Brexit wie der ehemalige Bürgermeister Londons, Boris Johnson, argumentieren, dass die EU für Großbritannien als drittgrößter Nettozahler ein Verlustgeschäft sei. Ein weiteres Argument ist die Kontrolle über die Grenzen. Unionsbürger haben das Recht, sich im Königreich niederzulassen. Derzeit leben und arbeiten dort mehr als zwei Millionen Menschen aus anderen EU-Ländern. Sie belasten angeblich die sozialen Sicherungssysteme - Studien widerlegen dies jedoch. Die in den Augen vieler Briten ausufernde Regulierung durch Brüssel sorgt zudem für Unmut. Brexit-Befürworter halten die EU außerdem für nicht ausreichend demokratisch legitimiert und fordern die Rückbesinnung auf nationale Souveränität.
Die Anhänger des EU-Verbleibs warnen in erster Linie vor wirtschaftlichen Konsequenzen. Einem Gutachten des britischen Finanzministeriums zufolge würde der Brexit jeden Haushalt in Großbritannien 4300 Pfund pro Jahr kosten. Der Grund: Das Land müsste neue Freihandelsabkommen abschließen, Investitionen aus Drittstaaten könnten zurückgehen und Banken könnten nach Kontinentaleuropa abwandern. Die Folge wäre eine Rezession.
Die Wahllokale sind am Donnerstag von 07.00 Uhr morgens bis 22.00 Uhr britischer Zeit geöffnet - also von 08.00 bis 23.00 Uhr deutscher Zeit. Nur in Gibraltar schließen die Wahllokale wegen der Zeitverschiebung eine Stunde früher. Danach beginnt die Auszählung. Nach bisherigem Stand wird es nach Schließung der Wahllokale weder Prognosen noch Hochrechnungen geben. Im Laufe der Nacht werden aber die Ergebnisse aus den einzelnen Wahlbezirken nach und nach bekannt werden. Die meisten Resultate dürften zwischen 03.00 und 05.00 Uhr deutscher Zeit vorliegen. Ein Endergebnis wird am Freitag um die Frühstückszeit erwartet - wenn es nicht wegen Pannen zu Verzögerungen kommt.
Während diese Fragen wegen der Spillovers dringend europäische Lösungen benötigen (aber nicht bekommen), müssten Arbeitsmarkt-, Fiskal- und Sozialpolitik gerade nicht harmonisiert werden. Auch in der Geldpolitik besteht diese Notwendigkeit theoretisch nicht.
Anti-EU-Befindlichkeiten bekämpfen
Vor diesem Hintergrund scheint es gerade nicht so zu sein, dass ein „Weiter so!“ oder eine unkritische Vertiefung der EU im Moment das Gebot der Stunde ist. Schulz und Juncker scheinen zu übersehen, dass ein großer Teil der Anti-EU-Befindlichkeiten gerade daraus erwachsen, dass die Leute glauben, fremdbestimmt zu sein. Das liegt auch daran, dass die Entscheidungsprozesse in der EU nur schwer nachvollziehbar sind. Was aus Brüssel an Richtlinien und Gesetzesvorlagen zu uns kommt, ist oftmals von nationalen Regierungen vorgeschlagen worden (zuhause war es aber nicht umsetzbar).
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Je nachdem, ob die Leute die Regeln mögen nicht, werden sie von den Regierungen als das Ergebnis ihres Handelns oder aber als Diktat aus Brüssel verkauft. Dies kann als ein drittes Narrativ angesehen werden, das verheerende Folgen hat; vermutlich war es auch der Treiber des Brexit.
Deshalb ist das Gebot der Stunde eine ergebnisoffene Diskussion über die Zukunft der Tiefe der EU – die Zukunft der EU steht außer Frage. Dazu zählt auch eine ehrliche Bestandaufnahme des Erreichten. Bewertungsmaßstab kann das Subsidiaritätsprinzip sein, das heißt es muss genau geprüft werden, was auf welcher Ebene entschieden wird.
Dazu muss Transparenz über die Verteilung der Entscheidungskompetenzen geschaffen werden. Vielleicht muss man sogar hinter das Erreichte in einigen Feldern zurückfallen. Dies dürfte kein Problem sein, wenn es der Integration insgesamt diente.
Ochs und Esel können die EU nicht aufhalten, falsch verstandene Imperative und schlecht vorbereitete Vertiefungsschritte allerdings sehr wohl.