Freytags-Frage
Eine Mitarbeiterin des Impfteams überprüft vor Beginn Corona-Impfungen im Seniorenheim eine Spritze mit dem Impfstoff gegen Covid-19 Quelle: dpa

Impf-Debatte: Wie gerecht ist gerecht?

Während der Coronakrise wird viel über Gerechtigkeit diskutiert. Wie sollen wir mit übriggebliebenem Impfstoff umgehen? Und sollten Geimpfte Privilegien erhalten? Wir dürfen das große Ganze nicht aus dem Blick verlieren! Eine Kolumne.

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In Deutschland klappt zur Zeit nicht viel im Zusammenhang mit der Coronapandemie; dies zeigt sich besonders deutlich bei der Impfung. Erst wird der Impfstart verstolpert, dann liefert ein Hersteller zu wenig. Dann wird genau dieser Impfstoff von der Bevölkerung wegen der Nebenwirkungen nicht wie gewünscht angenommen und deshalb nicht ausreichend verimpft. Millionen Dosen liegen in den Kühlregalen und warten auf Abnehmer. Gleichzeitig weist Deutschland eine sehr geringe Quote derer auf, die bereits geimpft sind.

Damit stellt sich die Frage, wie nun verfahren werden soll. Nach der Priorisierung der Bundesregierung werden drei Gruppen in absteigender Reihenfolge bevorzugt behandelt: zunächst über 80-Jährige und besonders exponiertes Gesundheitspersonal, danach über 70-Jährige, weitere Teile des Gesundheitspersonals und Sicherheitskräfte im öffentlichen Dienst, und schließlich über 60-Jährige und weitere Berufsgruppen einschließlich Schul- und Kita-Personal. Hinzu kommen in allen drei prioritären Gruppen unterschiedlich schwer erkrankte Personen.

Im Moment wird darüber diskutiert, dass Lehrer, Erzieher und Betreuer eine vorgezogene Impfung erhalten sollen. Dies scheint jedoch nicht unumstritten zu sein. Es wird das Argument ins Feld geführt, dass man sich an die Prioritätenliste zu halten habe, weil sie nach medizinischen Kriterien festgelegt wurde. Dafür spricht aber, dass es für die Gesellschaft insgesamt sehr wichtig ist, dass die Schulen wieder dauerhaft öffnen. Deshalb macht es Sinn, Lehrerinnen und Lehrer zu schützen, damit der Unterricht stattfinden kann.



Gleichermaßen kontrovers wird darüber gesprochen, wie mit den überzähligen Impfdosen zu verfahren sei. Inzwischen haben sich zahlreiche Politikerinnen und Politiker dafür ausgesprochen, diese überschüssigen Dosen unbürokratisch und schnell zu verimpfen. Dem kann man nur zustimmen. Je schneller ein Großteil der Bevölkerung geimpft ist, desto besser werden auch andere geschützt sein, wenn man davon ausgeht, dass Geimpfte das Virus nicht oder weniger weitergeben. Auch hier wird erstens die Prioritätenliste als Gegenargument gewählt. Zweitens wird die Gerechtigkeit bemüht: Es sei nicht gerecht, nicht-priorisierte Menschen zu impfen; wie könne man die Betroffenen denn gerecht auswählen? Es gäbe schon genug Drängler.

Das ist in gewisser Weise eine sehr eigentümliche Sicht auf die Gerechtigkeit. Was ist gerecht daran, dass teurer Impfstoff nicht genutzt wird? Ist es gerecht, wenn alle erkranken, nur weil nicht alle gleichzeitig geimpft werden können? Man bedenke, dass die Impfdosen deshalb überschüssig sind, weil die Berechtigten sie nicht wollten. Andere wollen dringend geimpft werden. Zur Lösung des Zuteilungsproblems könnte man im Übrigen Lösungen finden, hier ein Beispiel: Nach einer Ankündigung, dass zu einem genau festgelegten Zeitpunkt in den kommenden Tagen zusätzliche Impfungen für jüngere Menschen durchgeführt werden, sollten sich Interessierte melden. Dann wird gelost, die Ausgelosten bekommen eine Stunde Zeit; kommen sie bis dahin nicht zum Impfzentrum, wird nachgelost. Für die Gesellschaft ist es besser, die Anzahl der geimpften Personen so schnell wie möglich zu steigern. Alles andere ist vermutlich erheblich ungerechter.

Hinzu kommt eine kaum erträgliche Diskussion darüber, welche Privilegien geimpfte Bürgerinnen und Bürger bekommen sollen, wenn klar ist, dass Impfung auch andere vor der Ansteckung durch Geimpfte schützt. Hier wird so getan, als ob die Wiedererlangung der Grundrechte ein Privileg ist. Wer so spricht, scheint grundsätzliche Probleme mit der Freiheit zu haben (vor allem mit der Freiheit anderer). Hört man führende Verfassungsrechtler zu dem Thema, ist es nicht hinnehmbar, Grundrechtseinschränkungen fortzuführen, obwohl der Grund dafür (Selbstschutz und Schutz anderer) entfallen. Insofern wird es vermutlich schnell richterliche Entscheidungen dazu geben, falls die Bundesregierung hier nicht einlenkt.

Auch in diesem Kontext werden zusätzlich Gerechtigkeitserwägungen angestellt. Es sei nicht gerecht, dass ein Geimpfter sich frei bewege und Ungeimpfte dies nicht dürften. Wiederum stellt sich die Gegenfrage, was der Ungeimpfte davon hat, dass der Geimpfte nicht in den Biergarten oder das Restaurant gehen darf. Es ist überdies ohnehin die Sache der Restaurantbesitzer, Kinobetreiber etc., festzulegen, wer Einlass findet und wer nicht. Es kann dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben jedenfalls nur guttun, wenn wieder ein Schuss Normalität einzieht. Dazu tragen die Impfungen bei. Außerdem dürfte es klar ein, dass die Einreise in die meisten Länder in der nahen Zukunft ohne eine Impfung unmöglich sein wird. Es ist nicht zu erwarten, dass die Bundesregierung, die sich bekanntermaßen wenig um Rechte von ausländischen Bürgern nach dem Schengen-Abkommen kümmert, ungeimpfte Reisende nach Deutschland einreisen lassen wird. Hier sollte man also nicht mit zweierlei Maß messen. Die schnellere Rücknahme von Grundrechtseinschränkungen für Geimpfte dürfte die Bereitschaft zur Impfung darüber hinaus erhöhen, was wiederum allen hilft.

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Insgesamt ist die Gerechtigkeitsdebatte im Kontext mit den Impfungen völlig übertrieben, durcheinandergeraten und etwas willkürlich. Im Moment kann es nur darum gehen, so viele Menschen wie möglich zu impfen, bevorzugt natürlich Gefährdete (zum Beispiel Altenheimbewohner) und potentielle Gefährder (zum Beispiel Lehrerinnen oder Verkäufer). Wenn dann Impfstoff übrigbleibt, sollte er so schnell wie möglich verwendet werden. Wer geimpft ist, sollte dann schnellstmöglich in die Normalität zurückkehren können; das hilft anderen auch.

Mehr zum Thema: Zu geringe Wirksamkeit, zu viele Nebenwirkungen: Viele Deutsche wollen sich lieber nicht mit AstraZeneca impfen lassen und sagen ihre Termine ab.

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