Freytags-Frage
Quelle: REUTERS

Ist der verschärfte Lockdown Ausdruck von Panik?

Der Lockdown geht weiter. Das wirft eine Reihe von Fragen auf, die vor allem wichtig sind, um die von der Bundesregierung getroffenen Entscheidungen rational zu betrachten.

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Seit Dienstag ist es klar. Der Lockdown wird bis zum 14. Februar weitergehen. Universitäten, Schulen und Kitas bleiben weiterhin geschlossen. Es gibt leichte Verschärfungen für das Tragen von Masken in Geschäften und im öffentlichen Nahverkehr. Unternehmen sollen es ihren Mitarbeitern mehr als bisher gestatten, zuhause zu arbeiten, sofern es möglich ist. Und es soll einen besseren Schutz (als zuvor) der besonders vulnerablen Menschen in Alten- und Pflegeheimen geben.

Es fällt dem Sozialwissenschaftler schwer, diese Maßnahmen aus epidemiologischer Perspektive zu beurteilen. Es gibt ja auch unter den Fachleuten – wie in jeder Wissenschaft – unterschiedliche Auffassungen. Einige fordern mehr, andere genau dieses Paket, dritte wiederum verlangen eine schnelle Öffnung. Hier muss man der Regierung wohl weiterhin zugestehen, eher zu vorsichtig als zu offensiv zu sein. Dennoch stellen sich immer drängender eine ganze Reihe von Fragen.

  • Erstens scheint die bisherige Politik nur bedingt geholfen zu haben. Trotz knapp drei Monaten Lockdown in unterschiedlicher Schärfe hat sich die Ansteckungsgeschwindigkeit seit Ende Oktober nicht wie geplant reduziert. Normalerweise würde man eine Strategie zumindest ausführlich diskutieren, wenn sich der gewünschte Effekt nicht einstellt. Die Bundesregierung (im Verbund mit den Ministerpräsidenten) erhöht vor allem die Dosis.
  • Zweitens gibt es nach wie vor kaum Belege für die These, dass das Virus sich besonders stark in Bildungseinrichtungen, Läden oder Restaurants verbreitet. Internationale Studien zeigen eher wenige Ansteckungen. Trotzdem schließen wir Schulen, Kitas, Läden und Restaurants und sorgen für Frust in den Familien, langfristige Schäden bei vielen Jugendlichen (die vermutlich erst so spät sichtbar werden, dass man die Verantwortlichkeiten nur schwer zuordnen kann), die Unterdrückung des gesellschaftlichen Lebens und die Gefährdung ganzer Branchen.
  • In diesem Zusammenhang wundert es doch, dass es immer noch Schulen gibt, die nicht in der Lage sind, angemessenen digitalen Unterricht anzubieten. Bedenkt man die enormen Geldsummen, die der Bund zur Bewältigung der Krise insgesamt aufgebracht hat, dürfte die Ausstattung von Schulen mit Technik und die Weiterbildung von Lehrern doch machbar gewesen sein.
  • Viertens werden die besonders gefährdeten Gruppen bislang kaum mit hoher Intensität geschützt. Hier hätte man sofort Handlungsstrategien entwerfen und die notwendigen Mittel aufbringen können, die nun den geschlossenen Sektoren gegeben werden müssen. Gerade das schwedische Beispiel der hohen Zahl an Todesfällen in solchen Pflegeeinrichtungen zu Beginn der Pandemie hat doch deutlich gemacht, wie wichtig deren Schutz ist.
  • Dies führt fünftens zu der Frage, ob und wie intensiv sich die Bundesregierung mit anderen europäischen Regierungen über Erfahrungen austauscht und die Effektivität der unterschiedlichen Maßnahmen analysiert.
  • Sechstens gibt es keine Belege dafür, dass der Inzidenzwert von 50 tatsächlich die Leistungsfähigkeit der Gesundheitsämter widerspiegelt. Man müsste doch erwarten, dass die Gesundheitsämter in den vergangenen 12 Monaten erheblich gestärkt und mit ausreichend Ressourcen ausgestattet wurden. Das lange Festhalten an diesem Inzidenzwert spricht allerdings nicht dafür.

Schließlich gewinnt die Öffentlichkeit den Eindruck, Regierungspolitiker hören nur noch denjenigen Beratern zu, die die Maßnahmen gutheißen. Es gibt beispielsweise eine Reihe seriöser Wissenschaftler und Kommunalpolitiker, die die Dinge differenziert sehen (und dabei weit davon entfernt sind, Falschmeldungen oder Verschwörungstheorien zu verbreiten). Sie sollten gehört werden, ohne dass daraus eine Verpflichtung erwachsen würde, ihrem Rat zu folgen. Er würde zumindest die Entscheidung rationaler erscheinen lassen.



Es wäre sehr wichtig für die Akzeptanz der Maßnahmen, wenn diese und andere Fragen in der Öffentlichkeit, aber vor allem im Parlament, diskutiert würden. Da muss man den beiden Oppositionspolitikern Ditmar Bartsch und Christian Lindner zustimmen, die einen gemeinsamen (sic!) Beitrag dazu veröffentlicht haben. Stattdessen pflegen die meisten Regierungspolitiker inzwischen eine immer alarmistischer klingende Sprache und versprühen vor allem Ratlosigkeit. Es klingt schon fast so etwas wie Panik durch, wenn sich Bundespolitiker oder Ministerpräsidenten der Bundesländer an die Öffentlichkeit wenden. Gleichzeitig drängt sich auch zunehmend der Eindruck auf, dass sich manche in der Rolle des Krisenmanagers mit der Kompetenz zu Grundrechtseinschränkungen wohl fühlen und sich wünschen, diese Phase dauere noch an.

Sehr glaubwürdig wirkt das alles nicht mehr. Wie sollen die Skeptiker überzeugt werden, wenn wir seit einem Jahr Woche für Woche die gleichen Beschwörungsformeln hören? Warum sollten die Menschen glauben, dass ab dem 15. Februar Geschäfte, Friseursalons, Sportstudios, Hotels und Gaststätten wieder öffnen und Mannschaftssport wieder möglich sein wird? Wieso scheint die Politik nichts dazuzulernen, obwohl sich aus den Erfahrungen der letzten zehn Monate doch Lehren ableiten lassen müssten?

Dies alles hat sicherlich auch damit zu tun, dass es offenbar immer noch keine Strategie der Bundesregierung für die mittel- und langfristige Bewältigung der Coronakrise gibt, wie sie Anfang November gefordert wurde. Wenn die politischen Entscheidungsträger keine klare Vorstellung über langfristig wirkende Maßnahmen haben, können sie nur kurzfristig wirkende Politiken ergreifen und hoffen, dass sie wirken. Ist dies nicht der Fall, vermitteln sie den Eindruck von Getriebenen.

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Deshalb kann man das Plädoyer für die Ausarbeitung einer Langfriststrategie nur wiederholen. Es wird höchste Zeit, jetzt schnellstens Szenarien zu entwickeln, wie man mit der Pandemie bis zur vollständigen Impfung der dazu bereiten Bevölkerungsanteile umgeht, diese Szenarien zu veröffentlichen und diskutieren und Leitlinien festzulegen. Dazu sollte auch eine Aussage gehören, wie sich die Grundrechtseinschränkungen für geimpfte Bürger abbauen lassen – dass sie abgebaut werden müssen, ist wohl unstrittig, wenn man den prominentesten Verfassungsjuristen Glauben schenken kann. Mit der Panik sollte langsam Schluss sein.

Mehr zum Thema: Regierungen, Fluglinien und Technologiefirmen bereiten sich darauf vor, Urlaubsreisen wieder möglich zu machen.

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