Freytags-Frage

Soziale Markwirtschaft - war da was?

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Keine rein akademische Frage

Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob wir noch in einer Sozialen Marktwirtschaft leben, keine rein akademische. Die gute wirtschaftliche Situation im Sommer 2017 kann sich nämlich schnell ändern. Dann ist es für die Wirtschaftspolitik wichtig, bildungspolitisch gut aufgestellt zu sein und überzeugende Angebotsbedingungen für neue Unternehmen zu bieten.

So betrachtet muss man allerdings skeptisch sein. Gehen wir die Rahmenbedingungen einmal kurz durch:

1. Stabile Währung: In der Tat ist die Inflationsrate derzeit sehr niedrig und der Außenwert des Euro stabil. Die Risiken liegen eher in der enormen Ausweitung der Bilanz der Europäischen Zentralbank (EZB), vor allem durch die Ankäufe von Staatsanleihen. Wenn der geldpolitische Multiplikator anspringen sollte (also die Kreditvergabe an die Privaten sich steigert), wird sich zeigen, wie gut die EZB tatsächlich vorbereitet ist, einen Inflationsschub zu verhindern. Hinzu kommt die Gefahr einer Preisblase auf den Vermögensmärkten.

2. Private Eigentums- und Verfügungsrechte sind gewährleistet.

3. Die Übereinstimmung von Kompetenz und Haftung ist da schon deutlich geringer ausgeprägt. Immerhin zahlte der Staat auf allen Ebenen im Jahre 2015 etwa 170 Milliarden Euro Subventionen an die Wirtschaft. Die Rundfunkbeiträge als Subvention an einen staatlichen (gigantischen) Konkurrenten für private Medien von acht Milliarden Euro und die wahnwitzigen Subventionen für die Energiewende (im Strompreis versteckt) sind da noch gar nicht enthalten. Die jüngste Unterstützung von Air Berlin mit offensichtlich industriepolitischer Motivation ist ein gutes, weil mahnendes, Beispiel für die Verflechtung des Staates mit der Industrie. Und ohne das Dienstwagenprivileg (eine steuerliche Subvention) hätte sich die Dieselaffäre vielleicht gar nicht so ausbreiten können.

4. Hinsichtlich der Gewerbefreiheit und der Offenheit von Märkten gibt es wenig zu beklagen. Lediglich der Meisterzwang im Handwerk, die nun auch offiziell als verfehlt geltende Mietpreisbremse und die schädliche, weil protektionistische und umweltfeindliche Agrarpolitik der Europäischen Union sind negativ.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

5. Anders verhält es sich wiederum mit der konstanten Wirtschaftspolitik. In den letzten Jahren hat die Bundesregierung immer wieder mit abrupten Kehrtwendungen für große Unsicherheit gesorgt: Man denke an den Atomausstieg (bzw. den Ausstieg vom Ausstieg des Ausstieges), die Kehrtwende in der Rentenpolitik und an die absurde Entwicklung in der Behandlung von Verbrennungsmotoren.

Davon abgesehen muss die Beteiligung des Landes Niedersachsen am Volkswagen-Konzern sowie die unüberschaubare Vielzahl von kommunalen Unternehmen, die zusammen etwa sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften – und dabei private Konkurrenz unterdrücken – aufstoßen. Hier spielt der Schiedsrichter mit. Ebenfalls eine industriepolitische Dimension hat die Geldpolitik. Schließlich kauft die EZB neben Staatsanleihen auch Anleihen privater Unternehmen. Dies sind keine Mittelstandsanleihen, sondern es werden Großunternehmen vorteilhaft finanziert. Die Angebotsbedingungen sind auch deswegen nicht überragend, weil der Staat den Erhalt und den Ausbau der Infrastruktur in den letzten Jahrzehnten arg vernachlässigt hat.

Bleibt der soziale Ausgleich. Glaubt man den Interessenvertretern wie den Wohlfahrtsverbänden, leben wir in einem Klima der sozialen Kälte oder – wie Frau Wagenknecht es publikumswirksam und verkaufsfördernd für ihr Buch formuliert – im Feudalismus. Glaubt man der Statistik, gibt der Staat etwa ein Drittel seines Budgets für Soziales aus und das bei Rekordbeschäftigung. Vielleicht ist es doch nicht so kalt hier – allerdings kann die Zielgenauigkeit der Sozialausgaben durchaus hinterfragt werden; man denke nur an das Rentengeschenk nach der letzten Wahl.

Bildungspolitisch sieht es schon schlechter aus. Um nur einige Probleme zu nennen: In einigen Bundesländern herrscht Lehrermangel (sozusagen ein langfristiges vorausgeplantes Problem); ein gutes Zehntel jeder Kohorte verlässt die Schule ohne Abschluss; es mangelt der Wirtschaft an Auszubildenden; und die Hochschulen platzen aus den Nähten.

Insgesamt ist das Fazit ernüchternd: Soziale Marktwirtschaft wird weder in den Reden der Politiker erwähnt noch durchgängig praktiziert. Der Staat gibt sehr viel Geld für die Vergangenheit (Rentengeschenke etc.) und zu wenig für die Zukunft (Bildung, Infrastruktur) aus. Er greift in die Preise ein und subventioniert viele Sektoren. Und er ist als Eigentümer von Unternehmen aktiv. Im Wahlkampf ist das alles kaum ein Thema, mit einer Ausnahme: Die Freien Demokraten (FDP) werben im Wahlkampf mit dem witzigen Slogan „Jetzt wieder verfügbar: Wirtschaftspolitik“. Wir dürfen gespannt sein, ob das ernst gemeint ist.

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