Freytags-Frage
Quelle: dpa

Müssen wir jetzt unsere Risikoeinschätzung überdenken?

Auf den Corona-Lockdown gab es in Deutschland wenig negative Reaktionen. Langsam lockert die Politik die Maßnahmen und es drängt sich eine Frage auf: Wie wollen wir in Zukunft mit unerforschten Risiken umgehen?

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In der Bevölkerung werden immer mehr Stimmen laut, die dazu auffordern, den sogenannten Lockdown zu überdenken und vorsichtig, aber sichtbar zu lockern. In dieser Woche hat die Politik die ersten Lockerungsmaßnahmen umgesetzt – verbunden mit vielen Warnungen vor einem Rückfall und vor weiteren öffentlichen Diskussionen.

Dabei ist keineswegs ausgemacht, dass der Lockdown die einzig richtige Lösung ist. Der international hoch anerkannte schwedische Epidemiologe Johan Giesecke etwa sagt voraus, dass die Mortalitätsraten sehr gering und international vergleichbar ausfallen werden – unabhängig von der politischen Reaktion auf die Krise.

Das allein sollte Anlass genug für eine sachliche und unaufgeregte, aber ergebnisoffene Diskussion sein. Aber geht es wirklich nur um die raschere oder langsamere Öffnung eines laxeren oder strengeren Lockdowns? Dahinter steht die Einschätzung eines Risikos. Es steht offenbar fest, dass das Corona-Virus gefährlich ist. Es ist sicher, dass soziale Kontakte die Ansteckungsgefahr erhöhen. Wir sind also einem Risiko ausgesetzt, das durch den Lockdown verringert werden kann. Deshalb hat es auch kaum negative Reaktionen auf die recht strengen Maßnahmen gegeben, die weltweit nahezu einheitlich ergriffen worden sind. Und deshalb verbietet sich vermutlich auch ein kleinliches Nachkarten den Regierungen gegenüber, die angesichts eines nicht zu überblickenden Risikos schnell unter hohem Druck und medialem Dauerfeuer (unter Zuhilfenahme schrecklicher Bilder) reagieren mussten.

Damit sind wir beim Thema: Wie soll eine Gesellschaft mit einem neuen noch nicht erforschten Risiko umgehen? Die erste Aufgabe für jede und jeden Einzelnen – und auch für die Entscheidungsträger in der Gesellschaft – besteht darin, dieses neue Risiko in Beziehung zu anderen, bereits bestehenden Risiken zu stellen. Zweitens muss diese Risikoeinschätzung ständig überprüft werden, weil sich Risiken ändern. Und zwar durch ergriffene Maßnahmen und auch externe Einflüsse.

Als das Virus vor einigen Wochen Europa erreichte, wurde das Risiko – vermutlich zurecht – überall als sehr hoch eingeschätzt. Die Reaktion ist bekannt: Die Maßnahmenpakete entfalten derzeit ihre Wirkung. Heute wissen wir schon viel mehr über die Folgen des Virus.

Wir lernen aber auch immer mehr über die Nebenwirkungen der Therapie gegen das Virus. Auf der Makroebene sieht man einen Beinahe-Zusammenbruch der Weltwirtschaft: Weltweit ist die Arbeitsteilung unterbrochen, Wertschöpfungsketten funktionieren nicht mehr, viele Kapazitäten liegen brach und die Arbeitslosigkeit steigt überall dramatisch schnell an. Die wirtschaftspolitischen Reaktionen können die Folgen des Nachfrageeinbruchs lindern, schaffen aber in der kurzen Frist keine Abhilfe auf der Angebotsseite. Das Risiko einer weltweiten Depression und internationaler Konflikte wächst; eine Rezession wird es auf jeden Fall geben. Die Folgen für Entwicklungsländer könnten dramatisch sein.

Außerdem bedroht der Lockdown die Menschen- und Bürgerrechte. Das Risiko, dass die Demokratie quasi aus Versehen abgeschafft wird, steigt ebenfalls. Ungarn oder Brasilien sind warnende Beispiele. Auf der Mikroebene sieht es kaum besser aus: Überall auf der Welt bangen Menschen um ihren Arbeitsplatz oder ihr Unternehmen. Die Ausbildung der Schulkinder und Studierenden wird unterbrochen, was gerade bei Kindern aus benachteiligten Umfeldern erhebliche Langzeitwirkungen haben könnte. Für viele Menschen steigen andere Risiken: Es drohen psychische und physische Erkrankungen, häusliche Gewalt, Scheidungen oder eben Bildungsnachteile, die ein Leben lang nachwirken können. Gewohnte Verhaltensmuster und Routinen sind über den Haufen geworfen, das soziale Umfeld für viele Menschen nicht erreichbar.

All diese Risiken müssen in den Blick genommen werden. Es ist natürlich nachvollziehbar, dass einzelne Akteure immer einen Ausschnitt betrachten. Virologen mögen vor allem die Ansteckung und ihre Folgen im Blick behalten. Genauso ist es verständlich, dass Bildungsexperten auf das Risiko für junge Menschen hinweisen, dauerhaft abgehängt zu werden. Und dass die Wirtschaftsverbände das Risiko eines Handelskrieges in den Mittelpunkt rücken. Expertise oder Eigeninteresse geht aber gelegentlich mit Einäugigkeit einher.

Von der Politik muss man erwarten, diese Risiken gemeinsam zu betrachten und gegebenenfalls die Gewichtung der verschiedenen Risiken neu zu adjustieren. Das wesentliche Problem besteht darin, dass es Zielkonflikte gibt: Mehr Arbeitsteilung heißt mehr Kontakt und höhere Ansteckungsgefahr. Soziale Distanzierung heißt zugleich höheres Armutsrisiko. Die Kunst des Regierens besteht eben genau darin, diese Zielkonflikte so zu handhaben, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt und das Verständnis der jeweils von den Risiken unterschiedlich Betroffenen füreinander hoch bleibt. Es geht also nicht um „Geld oder Leben“ oder „Freiheit oder Leben“. Die Politik muss diese Konflikte in ihr Handeln einbeziehen und vernünftige Kompromisse finden. Es ist vor diesem Hintergrund umso erstaunlicher, dass die Debatte zu Risiken in der Politik nicht geführt wird.

In den vergangenen Jahren ist es der Welt materiell immer besser gegangen; das gilt vor allem für die OECD-Länder. Als Konsequenz rückten Gesundheits- und Umweltrisiken zunehmend in den Vordergrund, weil andere Lebensrisiken – wie Arbeitslosigkeit oder Armut – an Bedeutung verloren. In den letzten Jahren ging es uns also so gut, dass wir das Gesundheitsrisiko sehr hoch gewichten konnten. Das war in der Vergangenheit nicht so; denkt man etwa an die Atemwegsprobleme in Industriegebieten bis in die 1980er Jahre, den schlechten Arbeitsschutz bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts oder die große Anzahl an Verkehrstoten bis zur Einführung der Gurtpflicht. Damals hat die Gesellschaft diese Risiken offenbar akzeptiert. Es ist nur zu begrüßen, dass dies nicht mehr nötig ist – oder war.

Denn möglicherweise muss sich die Risikoeinschätzung und -gewichtung nach der Coronakrise ändern, wenn wir weiterhin einen hohen Lebensstandard aufrechterhalten wollen und andere Ziele wie Inklusion, Alterssicherung oder Klimaschutz erreichen wollen. Denn die totale Eindämmung des Virus würde wohl noch sehr lange dauern und die anderen hier beschriebenen Risiken auf der Mikro- und Makroebene dadurch deutlich steigen. Man mag sich die Auswirkungen einer globalen Depression über Monate oder gar Jahre überhaupt nicht vorstellen. In der finalen Konsequenz führt eine breite Verarmung der Welt dazu, dass auch diese oder zukünftige Pandemien nicht mehr beherrschbar wären. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es durch die Pandemie zu einer dauerhaften Verschiebung von Risikoeinschätzungen kommt, weil man nur dann die anderen beschriebenen Risiken eindämmen kann, wenn man ein höheres Gesundheitsrisiko als in den letzten Jahrzehnten akzeptiert.

Auf jeden Fall muss diese Frage diskutiert werden. Am besten wäre es, wenn die Politik sich selbst laut und hörbar an einer Diskussion der unterschiedlichen Risiken und ihrer Gewichtung beteiligen würde – und sie damit die Diskussion nicht im Internet beließe. Die Frage nach der Einschätzung und Gewichtung unterschiedlicher Lebensrisiken ist zentral. Doch es ist grob fahrlässig, ihre Beantwortung auszusitzen oder sie einzelnen Experten und Interessierten zu überlassen.

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