Freytags-Frage
Ein leerer Sitz im Bundestag. Quelle: imago images

Warum braucht Demokratie Beschränkungen der Mehrheit?

Ist der Parlamentarismus für schwerwiegende Probleme wie den Klimawandel ungeeignet? Warum eine Regierung, die nur auf Stimmungen im Land reagiert, gerade nicht demokratisch ist.

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Die Demokratie in Europa steckt in einer Krise. Dies gilt zunächst für die Länder, in denen zunehmend illiberale Politik vorgenommen wird. In Ungarn schaltet Präsident Orban die Presse gleich und kujoniert die Wissenschaft. In Polen versucht die Regierung gar, sich die Justiz gefügig zu machen. In der Türkei schaltet und waltet Präsident Erdogan, wie er will. In allen Ländern wird argumentiert, die Mehrheit hätte für die Regierung gestimmt, und nun hätte die Regierung eben das Recht, ihre und die Mehrheitsinteressen durchzusetzen.

In Deutschland ist die Diskussion anders gelagert, dennoch steht die Demokratie auch hierzulande unter Druck. Mitglieder der Linken und der sogenannten Alternative für Deutschland machen unter Gejohle ihrer Anhänger immer wieder deutlich, dass die parlamentarische Demokratie für sie nur ein Mittel zum Zweck (nämlich Einführung einer Diktatur) ist. Gleichzeitig meinen viele Anhänger einer strikten Klimapolitik, dass der Parlamentarismus für solch schwerwiegende Probleme ungeeignet sei – hier müsse im Zweifel über das Parlament hinweg entschieden werden; so lassen sich zum Beispiel die Aufrufe der Gruppe „Extinction Rebellion“ interpretieren. Ein drittes Argument lautet, Regierende richteten sich nicht danach, was die Menschen wollten. Außerdem würden ständig Wahlversprechen gebrochen.

All diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Regierungen in Europa den Rechtsstaat nicht angemessen pflegen und entsprechend rechtsstaatlich handeln. So war der Umgang mit der europäischen Staatschuldenkrise ab 2009 genauso ein organisierter Regelbruch wie die Reaktion auf die Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Auch wenn man die Motive dahinter sehr gut verstehen kann und es befürworten mag, dass in Notfällen unbürokratisch und spontan geholfen wird, so ist der Bruch rechtsstaatlicher Prinzipien nicht zu akzeptieren. Denn mit welchem Recht wollte sich die Bundesregierung nun Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus oder gegen den Klimawandel widersetzen, nur weil diese Maßnahmen rechtsstaatlicher Praxis zuwiderlaufen? So könnte man wenigstens fragen.

von Karin Finkenzeller

Die Antwort ist eindeutig. Die Bundesregierung hat nicht nur das Recht, sondern vor allem die Pflicht, Problemlösungen unter den Bedingungen des Rechtsstaates zu suchen. Denn es ist gerade die Regelorientierung des Rechtsstaates, die dafür sorgt, dass Maßnahmen und Problemlösungen legitimiert werden. In einer Demokratie gibt es keinen Absolutheitsanspruch, es geht um Interessenausgleich und langfristige Beziehungen – denn Mehrheiten können sich ändern.
Anders gewendet: Es ist nicht legitim, eine Mehrheitsposition dazu zu nutzen, Minderheiten auszubeuten oder eigene Ziele um jeden Preis durchzusetzen. Es geht auch nicht darum, für jedes einzelne Problem jedes Mal neue Lösungen zu finden. Demokratische Prozesse können sehr wohl in einem wohlstrukturierten Umfeld stattfinden.

Ein Beispiel: Es ist unstrittig erwiesen, dass Inflationsprozesse nur Schaden anrichten; Inflation ist sowohl verteilungspolitisch ungerecht als auch ein Investitions- und Wachstumshemmnis und damit auch arbeitsmarktpolitisch langfristig abzulehnen. Darüber braucht man nicht jedes Jahr aufs Neue abzustimmen. Insofern ist die Regel, dass die Geldpolitik Inflation bekämpft, mit jeder Demokratie vereinbar.

Gleiches gilt für den möglichst unbeschränkten Außenhandel. Er ist auf Dauer und im Durchschnitt friedenstiftend, Ausdruck individueller Freiheit und wohlstandfördernd. Eventuelle Verwerfungen sind mit sozial- und bildungspolitischen Maßnahmen aufzufangen. Deshalb ist es absolut sinnvoll und notwendig – und kein Zeichen einer antidemokratischen Gesinnung –, sich in internationalen Verträgen zur Offenhaltung der eigenen Märkte zu verpflichten. Deshalb kann dann in demokratisch verfassten Gesellschaften der Freihandel nicht abgeschafft werden, obwohl vielleicht eine Mehrheit in einem bestimmten Augenblick dafür stimmen würde.

Der theoretische Grund für eine Regelbindung in der Demokratie ist recht einfach: Niemand weiß, wie es ihr oder ihm in der Zukunft ergehen wird; wir leben hinter einem Schleier der Unsicherheit. Dieser Schleier hat mindestens drei Dimensionen:
• Wer sind wir in der Zukunft? Sind wir schlecht für das Leben gerüstet und krank, oder bestens präpariert und gesund? Oder eine Mischung?
• Wie viele sind wir? Sind wir plötzlich in der Minderheit, obwohl wir gerade noch Teil der Mehrheit waren?
• Und wie stehen wir materiell da? Sind wir arm oder wohlhabend? Brauchen wir die Unterstützung des Kollektivs?

Da niemand das für die Zukunft weiß, ergibt es eindeutig Sinn, dass wir uns als Kollektiv darauf einigen, bestimmte Regeln vorab festzulegen, wenn wir sie gemeinsam für fair halten.

Solche Regeln sind die erwähnte Inflationsvermeidung (zumeist ausgedrückt durch die Unabhängigkeit der Notenbank vom politischen Tagesgeschäft), die Außenhandelsfreiheit (ausgedrückt durch die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation), aber auch sozialpolitische Prinzipien (Hilfe in der Not durch den Staat) und vor allem Menschen- und Bürgerrechte. Wenn diese durchgesetzt werden, kann eine noch so kleine Minderheit nicht von der Mehrheit unterdrückt werden. Nur wenn solche Mechanismen funktionieren, kann man mit Fug und Recht von einer funktionierenden Demokratie sprechen. Übrigens kann man die meisten dieser Regeln (außer einigen fundamentalen Artikeln im Grundgesetz) mit politischen Mehrheiten wieder ändern. Das dies so selten geschieht, zeigt auch ihre Relevanz.

Diese Form der Demokratie muss und wird es aushalten, wenn sich manche Prozesse, zum Beispiel die Bildung einer Mehrheit für den Klimaschutz, lange hinziehen. Wenn sich besseres Wissen – zum Beispiel über den Klimawandel – empirisch bestätigt und politisch durchsetzt, kann man den Schutz des Klimas in eine Regel gießen, die dann in der Zukunft nicht mehr in Frage stellen kann (oder nur mit einer parlamentarischen, im Zweifel qualifizierten Mehrheit).



Echte Demokratie ist damit besser vor täglichen Meinungsschwankungen und populistischen Marktschreiern geschützt. Eine Regierung, die nur auf Stimmungen im Land reagiert, ist in diesem Sinne gerade nicht demokratisch, weil sie nur kurzfristig reagiert und das langfristige Wohl der Bevölkerung vernachlässigt. Sie zerstört auch Vertrauen in die Ordnung. Die Große Koalition hat in dieser Hinsicht eine Menge Schaden angerichtet, als sie in zentralen Fragen des Europarechts und des Asylrechts gerade nicht auf den Rechtsstaat setzte.

Nun stehen wir wieder vor großen gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen. Es wäre uns allen sehr zu wünschen, dass die Bundesregierung auf die Herausforderungen des Jahres 2020 mit Rechtsstaatlichkeit und Augenmaß reagiert. Bislang gibt es keinen Grund zur Sorge. Dennoch muss man Regierende regelmäßig daran erinnern, dass ihre Macht in der Demokratie nur auf Zeit geliehen ist.

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