Freytags-Frage
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Warum kann Deutschland seine Probleme nicht lösen?

Demographischer Wandel, Migration, Klimawandel: Angesichts dieser Herausforderungen kann sich Deutschland keinen Stillstand leisten. Wir brauchen eine mutigere Regierung.

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In Deutschland schleppt sich die Großen Koalition (GroKo) durch die Legislaturperiode ihrem Ende entgegen. Die Kanzlerin wirkt müde, die Sozialdemokraten völlig verwirrt. Der jüngste Beleg für Letzteres war die Haltung der Partei zur neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – die Ministerin aus der gemeinsamen Regierung und dem eigenen Land wurde abgelehnt. Die Dynamik der GroKo ist entsprechend gering. Das spiegelt sich im Zustand Deutschlands im Jahre 2019 wider.

Das Grundproblem besteht nicht so sehr darin, dass bestimmte umstrittene Maßnahmen ergriffen wurden, sondern vielmehr in den nicht ergriffenen Maßnahmen und verpassten Chancen. In den Blockaden und den daraus resultierenden seit Jahren erkennbaren Schwierigkeiten stecken ein Muster und eine politökonomische Logik, die Sorgen bereiten müssen.

Dies kann man gut an einigen Beispielen zeigen. So zerfällt die deutsche Infrastruktur sprichwörtlich vor unseren Augen, die Politik schafft es aber nicht, die nötige Mittelumschichtung von Sozialausgaben und Subventionen zur Finanzierung von Schulen, Autobahnen, Schienennetzen oder digitaler Infrastruktur vorzunehmen. Die Sozialausgaben scheinen sakrosankt, auch weil die dort herrschenden Schwierigkeiten ignoriert werden. So verweigert sich die Rentenpolitik schon einer Analyse der Folgen der demographischen Entwicklung – die Renten seien sicher, wird uns seit Jahrzehnten erklärt. Simple Logik legt nahe, dass spätestens mit dem Eintritt der Babyboomer ins Rentenalter diese Aussage so absolut nicht mehr gilt.

Oder nehmen wir die Entwicklungszusammenarbeit: Obwohl überzeugende Evidenz für die weitgehende Wirkungslosigkeit von Entwicklungshilfe auf der einen Seite und der positiven Wirkungen von Direktinvestitionen und wirtschaftlicher Zusammenarbeit auf der anderen Seite vorliegt, gibt die Bundesregierung im Zeitablauf eher mehr als weniger für die Entwicklungshilfe und eher weniger als mehr für wirtschaftliche Zusammenarbeit aus – und das trotz der Herausforderungen durch die Migrationsströme. Gleichzeitig beharren die deutsche und französische Regierung in der Europäischen Union auf einer Agrarpolitik, die gegen die Anbieter aus Entwicklungsländern protektionistisch und diskriminierend wirkt.

Ein weiteres Problem, das jüngst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geriet, ist die Gesundheitsversorgung. Laut einer für die Bertelsmann-Stiftung angefertigten Studie ist die Krankenhausdichte in Deutschland viel zu hoch. Das sichert zwar kurze Wege, aber nicht die Qualität der Versorgung. Denn die steigt Fachleuten zufolge mit der Anzahl der jeweils von einem Team oder einem Operateur durchgeführten Operationen; bei lebensbedrohlichen Krankheiten ist dies nicht trivial! Deshalb plädieren die Autoren für eine Konzentration der Krankenhäuser. Der Aufschrei gegen diese Studie ist groß – Politiker, Bürger und Versorger wehren sich. Dass die Branche dagegen ist, ist nachvollziehbar, wenn auch nicht akzeptabel. Dass die Politik hier nicht genauer hinsieht und die richtigen Konsequenzen zieht, ist allerdings noch weniger verständlich.

Es stellt sich ohnehin die Frage, wieso diese Struktur überhaupt so lange überleben konnte. Die gleichen Fragen stellen sich in den oben genannten Fällen der Infrastruktur, Agrarpolitik, der Entwicklungszusammenarbeit und der Alterssicherung.

Die Antwort auf diese Frage hat der amerikanische Ökonom Mancur Olson (1932 bis 1998) bereits seit den Sechzigerjahren in seinen Schriften erarbeitet. Olson erklärte zunächst sehr überzeugend, warum sich Produzentenverbände so gut organisieren können. Anders als Verbraucher oder Steuerzahler sind die Gruppen klein, und das Trittbrettfahrerproblem der Vertretung kann gelöst werden. Darüber hinaus haben durch Lobbyarbeit sie sehr viel mehr zu gewinnen als Konsumenten. Ein Gedankenexperiment: Brechen die Konsumenten wegen des Milchpreises zu einer Sternfahrt nach Berlin, Paris oder Brüssel auf? Nein! Für die Milchbauern lohnt es sich.

Zweitens hat Olson gezeigt, dass eine Gesellschaft ihre Dynamik verliert, wenn organisierte Interessen zu stark werden und zu großen Einfluss auf die Regierung ausüben. Dann steht Besitzstandswahrung über allem; es geht vor allem um die Verteidigung von Renten, also ökonomisch (und oftmals auch moralisch) nicht gerechtfertigten Einkommen. Die Gesellschaft bewegt sich nicht mehr, der Strukturwandel wird behindert. Alte Unternehmen verschwinden nicht vom Markt, neue Unternehmen bekommen zu wenig Chancen.

In der Tat scheint Deutschland von dieser Sklerotisierung, wie Olson sie nannte, betroffen zu sein. Reformen brauchen halbe Ewigkeiten, manche Probleme werden gar nicht gelöst; man denke nur an die übermäßig komplexe und ungerechte deutsche Steuerpolitik. Schon bei Gesetzesentwürfen werden regelmäßig betroffene Verbände hinzugezogen, die dann natürlich dafür sorgen, dass sich wenig ändert. Hinzu kommt eine Geldpolitik, die Strukturwandel durch die niedrigen Zinsen behindert, weil die Banken es sich immer weniger leisten können, alte Unternehmen untergehen zu lassen und riskante junge Unternehmen zu finanzieren.

Angesichts der Herausforderungen – demographischer Wandel, Migration, Klimawandel, politische Konflikte innerhalb und außerhalb Europas – kann sich das Land derartigen Stillstand nicht leisten. Wir brauchen eine Regierung, die sich der Probleme mutig annimmt und dabei auch nicht Angst davor hat, sich mit mächtigen Unternehmens- oder Sozialverbänden anzulegen, wenn sie ein Problem erkannt hat und es lösen will. Ob die GroKo dies noch schafft, mag bezweifelt werden. Dass wir keine zwei Jahre bis zur Bundestagswahl darauf warten können, steht fest.

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