Das Bundeskabinett hat das dritte Entlastungspaket bekanntgegeben. Sie wird in der nahen Zukunft sehr viel Geld dafür ausgeben, die Bürger und offenbar auch die Unternehmen vor steigenden Energiepreisen zu schützen. Leider bleiben noch viele Details gerade für die Unternehmen im Unklaren. Fest steht nur, dass die Bundesregierung außerordentliche Gewinne abschöpfen, eine Preisbremse einführen und den Bürgern Unterstützungszahlen leisten will. Außerdem verlangsamt die Regierung ihre Klimapolitik, indem sie die Erhöhung der CO2-Steuer aussetzt. Letztlich dienen diese Maßnahmen sämtlich dazu, den Preisauftrieb für Strom zu reduzieren. Zusätzlich wird Energiesparen empfohlen – das dürfte angesichts der Preissteigerungen sowieso eine Selbstverständlichkeit für die meisten Bürger sein.
Die Maßnahmen setzen jedoch ausschließlich an der Nachfrage an. Auf die Angebotsverknappung durch niedrige Gasimporte reagiert die Bundesregierung nicht oder kaum mit einer Angebotsausweitung. Leider bleibt es somit dabei, dass die Versorgung mit Strom, vor allem die Grundlast, in keinster Weise sichergestellt ist. Während in Deutschland große Anstrengungen zur Digitalisierung, Erhöhung der Elektromobilität und Nutzung der Bahn – alles Maßnahmen der Nachfrageausdehnung – in Gang sind, scheint die Stromversorgung, also das Angebot, nicht zu interessieren. Konventionelle, auf fossilen Brennstoffen basierende Stromproduktion soll langfristig korrekterweise aus dem Angebot ausscheiden, aber die zusätzliche Versorgung mit Erneuerbaren stockt seit Jahren.
Was vor über 20 Jahren als Energiewende mit recht willkürlichen Subventionen für erneuerbare Energien begann, sich über den überstürzt geplanten Atomausstieg nach der Katastrophe von Fukushima fortsetzte und im Verbot von Kohlkraftwerken bis 2038 seinen planwirtschaftlichen Höhepunkt fand, läuft im Herbst 2022 auf die Katastrophe hinaus. Möglicherweise stehen wir vor Stromausfällen unbekannten Ausmaßes, die nicht nur für die Bürger ein Ärgernis darstellen, sondern Produktionsausfälle, den Absturz von digitalen Systemen und Unterversorgung in Krankenhäusern, um nur die größten Bedrohungen zu nennen, bewirken kann.
Solche Engpässe auf dem Strommarkt bergen darüber hinaus unübersehbare Risiken für die Wirtschaft. Es drohen Produktionsausfälle, die die Schwierigkeiten in der Coronakrise übertreffen könnten – ob es dann zu Insolvenzen kommt oder nicht, sei dahingestellt. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass es im Winter zu gehäuften Unternehmenspleiten und stark steigender Arbeitslosigkeit kommt. Versprechen der Bundesregierung, weitere Hilfen zu leisten, können das Problem nur mildern, aber nicht lösen. Es gilt, das Angebot an bezahlbarem Strom auszuweiten.
Als Ausweg bietet sich die Verlängerung der Laufzeiten der drei Kernkraftwerke, die zum Jahresende vom Netz gehen sollen, sowie die Wiederinbetriebnahme anderer, bereits stillgelegter Kernkraftwerke an. Viele ernsthafte Stimmen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft fordern schon lange, dass die Kernkraft mindestens für einige Jahre wiederbelebt wird. Überall in der Welt sehen Regierungen die Kernkraft als eine echte Alternative zur Stromerzeugung auf Basis fossiler Brennstoffe an, mit der sie auch zum Klimaschutz beitragen können. Man muss vielleicht nicht so weit gehen, aber für den Übergang und in der gegenwärtigen Krise kann die Kernkraft eine wichtige Säule der Stromversorgung bilden. Es dürfte auch zur Beruhigung des nervösen Strom- und Gasmarkts beitragen, wenn die nutzbare Kapazität signifikant erhöht wird.
Atomkraft im Streckbetrieb
Der Betriebszyklus eines Reaktorkerns beträgt im Normalfall ohne Unterbrechung ungefähr ein Jahr. Nach Ablauf wird der Reaktor heruntergefahren und etwa das älteste Viertel bis Drittel der abgebrannten Brennelemente im Reaktorkern gegen neue getauscht.
Bei der Kernspaltung treffen langsame Neutronen auf Uran 235, so dass dieses in leichtere Kerne zerfällt. Dabei wird Energie in Form schneller Neutronen freigesetzt. Im Normalbetrieb wird ein Teil dieser schnellen Neutronen etwa durch die Beigabe von Borsäure im Kühlmittel abgebremst, um weitere Atomkerne besser spalten zu können. Mit der Zeit wird die Konzentration der Borsäure kontinuierlich reduziert. Irgendwann ist das natürliche Zyklusende erreicht.
Im Streckbetrieb wird der Reaktorkern über das Zyklusende hinaus genutzt. Durch Absenkung der Kühlmittel-Temperatur erhöht sich die Wasserdichte zwischen den Brennstäben. Dadurch werden die schnellen Neutronen ebenfalls gebremst, die bei der Kernspaltung entstehen.
So kann der Reaktorkern etwa 80 bis 90 Tage über seinen eigentlichen Betriebszyklus hinaus genutzt werden. Aber: Er verliert sukzessive an Leistung – täglich rund 0,5 Prozent, wie die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit angibt. Nach 80 Tagen wäre er noch bei etwa 60 Prozent seiner ausgelegten Leistung. Spätestens dann müssten neue Brennelemente eingesetzt werden.
Kurzum: Bei Streckbetrieb soll die Restenergie der Brennstäbe genutzt werden. Isar 2 zum Beispiel ist seit Mitte Oktober 2021 mit 48 neuen Brennelementen „für den letzten Betriebszyklus“ wieder am Netz, wie der Betreiber, die Eon-Tochter PreussenElektra, damals mitteilte.
Dazu gibt es verschiedene Angaben. Der Technische Überwachungsverein (TÜV) Süd geht etwa für den bayerischen Standort Isar 2 von 2,2 Terawattstunden (TWh) Strom in 80 Tagen Streckbetrieb aus, wie es in seiner Bewertung vom April im Auftrag der bayerischen Landesregierung heißt.
Dagegen kommt der Prüfbericht der Grün-geführten Bundesministerien für Umwelt und Wirtschaft/Klima vom März zum Ergebnis, der Streckbetrieb bringe keine zusätzlichen Mengen. Bis Jahresende würden die drei AKW weniger Energie erzeugen als ursprünglich geplant, „um über den 31.12.2022 hinaus im ersten Quartal 2023 noch Strom produzieren zu können“.
Diese Aussage wiederum bezeichnet der Verband Kerntechnik Deutschland (KernD) als „nicht korrekt“. „Streckbetrieb bedeutet Ausnutzung von Brennstoff über das geplante Zyklusende hinaus und damit die Produktion zusätzlicher Strommengen“, so die Stellungnahme. Auch Neckarwestheim-2-Betreiber EnBW stellt klar: Die Anlagenleistung werde vor Beginn eines Streckbetriebs nicht abgesenkt.
Auch dem Kernphysiker und Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital zufolge ist der im Streckbetrieb produzierte Strom tatsächlich eine zusätzliche Menge. Doch Erfahrungen unter anderem mit dem stillgelegten AKW Gundremmingen in Bayern hätten gezeigt, dass der damit produzierte Strom nicht besonders ins Gewicht falle.
Der letzte Gundremmingen-Block C wurde am 31. Dezember 2021 vom Netz genommen. 76 Tage zuvor war der Meiler in den Streckbetrieb gegangen. Nach Smitals Auswertung sind währenddessen 2 TWh Strom erzeugt worden. Der Reaktor habe bei der Abschaltung noch etwas mehr als 70 Prozent der Maximalleistung gehabt. Ein Weiterbetrieb hätte also noch schätzungsweise etwa 0,5 TWh Strom liefern können.
Nimmt man diese 2,5 TWh zusätzlichen Strom und spekuliert, jeder der drei heutigen Meiler könnte eine ebensolche Strommenge liefern, so wären mit diesen 7,5 TWh gerade 1,4 Prozent der Gesamtstromproduktion des Jahres 2021 (518 TWh) abgedeckt. Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 65,2 TWh aus Erdgas ins Netz eingespeist.
Ein Streckbetrieb ist für die AKW-Betreiber EnBW (Neckarwestheim 2), RWE (Emsland) und die Eon-Tochter PreussenElektra (Isar 2) auch eine ökonomische Abwägung: Einerseits wird durch die Leistungsabnahme kontinuierlich weniger Strom erzeugt und verkauft, andererseits werden die Brennstäbe besser ausgenutzt.
EnBW will zum Beispiel voraussichtlich im Herbst mit dem Streckbetrieb beginnen. „Die Abschaltung der Anlage spätestens Ende 2022 wird somit bei bereits verminderter Leistung erfolgen“, heißt es Mitte August auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur.
Die anderen beiden Betreiber wollten sich hingegen zunächst nicht in die Karten schauen lassen, wann und ob sie einen Streckbetrieb schon vor Jahresende planen. Sollte sich der Bund für eine Laufzeitverlängerung im Streckbetrieb entscheiden, zeigte sich Eon-Chef Leo Birnbaum zuletzt offen für entsprechende Gespräche mit der Politik. „An uns soll es jedenfalls nicht scheitern“, sagte er jüngst dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“.
Möglicherweise weiß die Bundesregierung bald mehr. Eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums erklärte am Sonntag: Es gebe noch kein endgültiges Stresstest-Resultat, die Untersuchung dauere an. Wenn die Ergebnisse final seien, werde man diese vorstellen.
Dass die Bundesregierung sich dieser Idee so vehement verweigert, kann nicht sachlich begründet sein. Die Problematik der Endlagerung der Abfälle wird nicht sonderlich verschärft, wenn die Laufzeit der deutschen Kernkraftwerke um fünf Jahre verlängert wird. Die Gefahr einer nuklearen Katastrophe wird ebenfalls nicht sonderlich erhöht, wenn deutsche Kernkraftwerke noch etwas länger am Netz bleiben; die Gefahrenherde liegen zur Zeit anderswo. Diese Diskussion wurde im Frühjahr nach Beginn der russischen Invasion gestartet, aber von der Bundesregierung systematisch abgewürgt.
Dabei war im Grunde früh abzusehen, dass im Herbst Gas knapp wird. Seit einem halben Jahr wird hierzulande vor kalten Duschen gewarnt und die Gasversorgung beschworen. Dass Präsident Putin die deutsche Diskussion nicht dahingehend ausnutzen würde, uns schrittweise und scheinbar zögerlich den Gashahn immer weitern zuzudrehen, durfte niemand glauben. Anstatt vom schlechtesten Fall auszugehen und seit März die Kapazitäten für den Herbst ohne Gaskraftwerke zu planen, hat man wohl in Berlin geglaubt, wenn es keine Sanktionen gegen russisches Gas gibt, wird das Gas weiter zu den üblichen Konditionen geliefert. Auch dies wäre eine grobe Fehleinschätzung des Kremlherrschers; dieses Mal übrigens noch naiver als in den Jahren zuvor.
Insofern bleibt als Schlussfolgerung und Interpretation der energiepolitischen Maßnahmen nur der Hinweis auf ideologische Verblendung bei den Grünen übrig. Ihnen scheint es so ungeheuer wichtig zu sein, ihr altes Ziel – oder ihren Gründungsmythos – Atomausstieg zu vollenden, dass ihnen eine mögliche Massenarbeitslosigkeit und sich potenziell anschließende soziale Unruhen, gepaart mit dem eventuellen Absturz der Grünen zur Splitterpartei bei gleichzeitigem Zuwachs an Zuspruch für die antidemokratische und völkische Alternative für Deutschland (AfD) völlig gleichgültig sind. Herr Habeck ist sich dessen bewusst, hat es aber offenbar nicht vermocht, sich gegen die vorherrschende Richtung der Partei durchzusetzen.
Man kann nur hoffen, dass die anderen Regierungsparteien die Koalitionsdisziplin nicht übertreiben und zurück zu Maß und Mitte finden. Das Problem der steigenden Strompreise ist nicht unlösbar. Man muss weder Putin nachgeben noch die Klimapolitik beerdigen. Es reicht völlig einzusehen, dass wir im Moment eine bekannte, von uns beherrschbare, wenn auch insgesamt nicht überlegene Technologie noch einige Jahre weiter genutzt wird. Das ist allemal besser, als das Land in eine massive Krise zu stürzen.
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