Freytags-Frage

Was bedeutet die Corona-Pandemie für die Gesellschaft?

Jede Krise ist nicht nur eine große Herausforderung, sondern auch eine Chance, Dinge zu verbessern. Deutschland braucht nun Tatkraft, Übersicht und Ruhe, Hilfsbereitschaft und solidarisches Verhalten. Ein Mutmacher.

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Das neue Coronavirus hält die Welt in Atem – sie steht im Grunde seit einigen Tagen still. Reisen werden abgesagt, Konferenzen und Messen werden bis auf Weiteres nicht stattfinden, persönliche Treffen werden auf ein Minimum reduziert. Die globalen Wertschöpfungsketten kommen zum Erliegen, was nichts anderes bedeutet, als dass überall auf der Welt Engpässe an Vorprodukten entstehen und Produktionsprozesse eingestellt werden. Millionen von Menschen müssen ihre Arbeit niederlegen und werden womöglich ihren Arbeitsplatz verlieren.

Richtigerweise haben die Regierungen auf der einen Seite dazu aufgerufen, soziale Kontakte zu minimieren und wenn möglich zu Hause zu arbeiten, um die Ansteckungszahlen so gering wie möglich zu halten und zugleich angekündigt, mit umfassenden und vermutlich sehr teuren Maßnahmen betroffenen Arbeitnehmern und Unternehmen zu helfen.

Die ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen sind natürlich noch nicht absehbar. Dennoch ist es geboten, sich darüber Gedanken zu machen, welche Folgen die Pandemie für unsere Gesellschaft hat. In dieser Kolumne geht es also nicht darum, die gesundheits- und wirtschaftspolitischen Maßnahmenpakete zu kommentieren oder gar zu beurteilen, sondern einige Fragen über unsere Gesellschaft aufzuwerfen. Ich bin seit einigen Wochen im Ausland und warte darauf, nach Deutschland fliegen zu können. Das bedeutet einerseits, dass ich nicht genau weiß, wie die Zustände wirklich sind. Andererseits bin ich den täglichen Herausforderungen nicht ausgesetzt und kann eine etwas distanzierte Perspektive einnehmen.

Es gibt die These, dass Krisen in der Lage sind, das Beste oder das Schlechteste im Menschen hervorzurufen. Unter die erste Kategorie fallen Tatkraft, Übersicht und Ruhe, Hilfsbereitschaft und solidarisches Verhalten. Die Politik reagiert mit schnellen und durchdachten Maßnahmen, die Menschen helfen anderen, sind rücksichtsvoll und teilen, was sie haben. Die zweite Kategorie ist geprägt durch zögerliche oder falsche Reaktionen der Politik und Egoismen aller Art und auf allen Ebenen. Politische Akteure ignorieren oder verniedlichen das Problem, beschuldigen andere (Opposition oder „das Ausland“), handeln zu spät, verbieten Exporte lebenswichtiger Güter oder wollen Güter wie Medikamente nur für die eigene Bevölkerung. In der Bevölkerung wird nicht geteilt, man hortet oder hamstert.

Nie wird es nur das eine oder das andere Reaktionsmuster geben. Nicht alle politischen Reaktionen sind sofort perfekt auf das Problem abgestimmt, nicht alle Menschen reagieren instinktiv richtig. Dennoch kann man vielleicht einen Trend in Deutschland erkennen.

Als erstes ist festzustellen, dass die Bundesregierung in Deutschland – von außen betrachtet – im Großen und Ganzen eine sehr gute Figur abgibt. Die Regierungsmitglieder strahlen Ruhe aus und kommunizieren sachlich; kompetente Wissenschaftler sind eingebunden. Man hört auch wenig harsche Kritik von der Opposition. Alle Akteure scheinen sich der Verantwortung bewusst zu sein. Das Vertrauen in die Politik scheint zu steigen.

Es zeigt sich, dass in Krisen eine rationale und eher traditionelle Herangehensweise an die Probleme doch geschätzt werden. Die Kommunalwahl in Bayern scheint diese These zu bestätigen. Das könnte bedeuten, dass nach der Krise die Populisten von links und rechts schwerer als zuvor mit ihren einfachen und oftmals unwahren Botschaften durchdringen können. Das wäre eine gute Nachricht.

Zweitens kann sich auch das Verhältnis der Bürger untereinander ändern beziehungsweise verbessern. Offenbar gibt es schon Einkaufsgemeinschaften junger Menschen für diejenigen, die unter Quarantäne stehen. Dies ist ein erfreuliches Beispiel von spontaner Solidarität. Man muss sich noch nicht einmal treffen. Einkaufslisten werden per E-Mail geschickt, es wird elektronisch gezahlt, und die Einkaufstasche wird vor die Tür gestellt. Ein Kollege regte kürzlich an, dass Solidarität auch dadurch gezeigt wird, dass Menschen das Eintrittsgeld für abgesagte Veranstaltungen oder Dienstleistungen nicht zurückverlangen, sondern als Teilanzahlung, Kredit oder Transfer betrachten. Insgesamt kann man hoffen, dass die Hilfsbereitschaft in Deutschland steigt, und zwar sowohl innerhalb von Familien als auch darüber hinaus. Dies sind nur Beispiele. Es gibt auch Anzeichen, dass der Umgangston – gerade in sozialen Netzen – wieder moderater wird.

Nicht nur eine große Herausforderung, sondern auch eine Chance

Drittens geht natürlich viel dadurch verloren, dass persönliche Treffen nicht mehr stattfinden. Das betrifft sowohl private Treffen in Kleingruppen als auch Großveranstaltungen. Gemeinschaftserlebnisse im Theater, bei Konzerten oder bei Sportveranstaltungen bleiben aus. Volksfeste, die für viele wichtige Anlässe sind, Freunde zu treffen, wurden oder werden noch abgesagt. Wichtige berufliche Gespräche, Sitzungen und Verhandlungen fallen aus; das Berufsleben wird dadurch deutlich schwieriger.
Viertens werden die Kommunikationswege sich gerade deswegen ändern, vor allem wenn die geforderte soziale Distanz flächendeckend umgesetzt wird. Noch scheinen es zwar nicht alle begriffen zu haben, wie wichtig es ist, Distanz zu wahren. Aber in wenigen Tagen werden persönliche Treffen auf das Nötigste beschränkt sein. Dann wird sehr viel mehr digital kommuniziert und gearbeitet. Universitäten arbeiten mit Hochdruck daran, die Lehrveranstaltungen virtuell anzubieten; auch Prüfungen werden vermutlich zunehmend virtuell abgehalten. Auch Kunst und Kultur werden sich sicherlich verstärkt virtueller Kommunikationswege bedienen; so kann man erstens das Bedürfnis nach Zerstreuung bedienen und zweitens Einkommen generieren. Sitzungen, sogar Messen kann man virtuell abhalten. Hier sind etliche Innovationen zu erwarten.
Die spannende Frage wird sein, was nach Überwindung der Krise passiert. Ist die Steigerung der Solidarität und des gegenseitigen Vertrauens in der Gesellschaft, sofern sie tatsächlich eintreten wird, dauerhaft? Können neu geschaffene virtuelle Kontakte in die reale Welt übertragen werden? Werden Verhaltensmuster, die durch die Krise unterbunden werden (der Clubabend am Freitag mit den Freunden, der Spieleabend, das gemeinsame Theaterabo, der regelmäßige Besuch des Fußballspiels) wieder aufgenommen, oder sind die Menschen dann weitergezogen?

Es wird auch interessant sein, zu beobachten, wie gerade die Entwicklung hin zu virtuellen Beziehungen sich langfristig auf die Gesellschaft auswirkt, wenn die Krise einmal überwunden ist. Wird die Ausbildung auch danach stärker virtuell stattfinden? Oder kommen wieder alle in die Hörsäle, als wäre nichts geschehen? Werden Sitzungen nun weitaus häufiger als zuvor auf elektronischen Plattformen abgehalten?

Unabhängig von den Antworten auf diese Fragen besteht eine große Chance, dass sich die Gesellschaft auf dem Weg zu einer tieferen Digitalisierung weiterentwickelt. Davon abgesehen werden die Menschen sich auch nach der Krise wieder treffen wollen; ihre Begeisterung für Kunst, Kultur und Sport dürfte ungebrochen sein. Vielleicht sieht der eine oder andere die Welt im Anschluss etwas anders und bewertet die Dinge differenzierter. Als Beispiel mag hier das Verhalten mancher Stadionbesucher gegenüber Dietmar Hopp gelten, der gerade deutlich gemacht hat, wie man als wohlhabender Mensch Solidarität üben kann, als er ein unmoralisches Angebot der US-Regierung, seine Anteile am Biotech-Unternehmen Curevac, kurz und bündig ablehnte und auch im Profifußball für Solidarität plädierte (anders als Vertreter des Arbeitervereins BVB 09).

Viele Fragen wirft die Pandemie auf, manche weitaus dringlicher als die hier gestellten, vor allem in der kurzen Frist. Dennoch ist jede Krise nicht nur eine große Herausforderung, sondern auch eine Chance, Dinge zu verbessern. Man darf also hoffen, dass das Verhältnis der Bürger zur Politik und der Bürger untereinander sich durch die Krise eher verbessert als verschlechtert. Das macht Mut.

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