Freytags-Frage
War die Aussetzung der Wehrpflicht ein Fehler? Die Meinungen darüber gehen seit 2011 weit auseinander. Quelle: dpa

Was spricht für eine Wehrpflicht?

Mit der richtigen und modernen Gestaltung könnte ein Pflichtjahr in der Bundeswehr oder im Zivildienst dabei helfen, ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern. Wenn denn alle Interessen gewahrt werden. Ein Plädoyer für eine offene Diskussion über die Wiedereinführung.

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Die neue Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, hat mit ihrem Vorschlag, die Wehrpflicht wieder einzuführen, für große Aufregung gesorgt. Dabei lohnt es sich, über die Idee zumindest nachzudenken. Vor knapp zehn Jahren wurde die Wehrpflicht und damit auch der Zivildienst wegen immer deutlicher zutage tretender Wehrungerechtigkeit aufgrund zu geringer Nachfrage nach jungen Menschen in der Bundeswehr ohne intensive Diskussion – quasi nebenbei – ausgesetzt. Seitdem kommt die Bundeswehr nicht mehr aus den Schlagzeilen, was keineswegs nur an der ausgesetzten Wehrpflicht liegt. Nach Auffassung der Wehrbeauftragten spielt sie trotzdem eine Rolle.

Vor allem die rechtsextremen Tendenzen in der Elitetruppe KSK – aber auch anderswo – haben Högl offenbar dazu veranlasst, die Wiedereinführung der Wehrpflicht zum Thema zu machen. Die Überlegung dahinter leuchtet ein. Eine Berufsarmee scheint attraktiv für Menschen mit Hang zur Gewaltbereitschaft und extremen Haltungen zu sein. Wenn die Soldaten aus der gesamten Gesellschaft kommen, könnten sich solche Tendenzen schwerer durchsetzen. Zumindest ein Vergleich der heutigen Situation mit der Vergangenheit legt nahe, dass es in Zeiten der Wehrpflicht weniger Rechtsextremismus in der Truppe gab.

Es gibt jedoch auch Zweifel daran, dass Wehrpflichtige im Grundsatz anders ticken als Berufssoldaten. Das mag umso mehr gelten, als die Wehrpflicht im Jahr 2021 anders als die Wehrpflicht in den Jahren 1981 oder 1991 nur einen kleinen Teil der Alterskohorte der Schulabgänger betreffen würde. Sie müsste gekoppelt sein mit einem verpflichtenden Zivildienst. Dann würde ein echtes Wahlrecht bestehen – Wehrdienst oder Zivildienst – mit der möglichen Folge, dass die im Falle der Freiwilligenarmee vermutete Selbstselektion der extremeren jungen Menschen auch weiterhin bestehen würde.

Insofern kann das Argument der Moderation der Truppe durch Wehrpflichtige nur bedingt überzeugen. Dennoch gibt es gute Gründe dafür, ein Pflichtjahr für junge Menschen zu diskutieren. Der Rechtsextremismus in der Truppe kann nämlich zunächst als ein Symptom der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft insgesamt interpretiert werden. Ein Pflichtjahr für alle würde dieser Spaltung entgegenwirken. Viele jungen Menschen scheinen in Filterblasen aller Art aufzuwachsen und wenig Kontakt zu Menschen mit anderen Lebensbedingungen zu haben. Die Separierung findet zum Beispiel im Bildungswesen, entlang der Einkommensgrenzen oder zwischen ethnischen Gruppen statt. Eine solche Separierung befeuert Vorurteile und trägt damit weiter zur Spaltung der Gesellschaft bei.

Das gab es in Teilen immer schon, aber eines hatte der männliche Teil der Babyboomer-Generation gemein: die Erfahrung als Wehrdienst- oder Zivildienstleistende. Weil sich die Erinnerung mit wachsendem zeitlichen Abstand immer mehr auf die positiven Erlebnisse konzentriert, hatten und haben Mitglieder dieser Altersklassen immer einige Anekdoten mit ihren Altersgenossen zu teilen. Das hilft dem Aufbau einer gemeinsamen Identität.

Außerdem macht ein Dienst für die Gemeinschaft diejenigen auf der Sonnenseite des Lebens bescheidener und kann anderen zu mehr Selbstbewusstsein verhelfen. Eine weitere Erfahrung haben vermutlich alle Wehrdienstleistenden gemeinsam: Unterschiede der Herkunft, der Bildung oder des (elterlichen) Einkommens spielen selbst in simulierten Extremsituationen keine große Rolle. In vielen Bereichen des Zivildienstes war es nicht anders; das können heutige Freiwillige mit Sicherheit bestätigen.

Liberale Politiker argumentieren mit der individuellen Freiheit der und des Einzelnen, die gegen ein Pflichtjahr für die Gesellschaft sprechen würde. Dieses Argument kann nicht so leicht beiseite gewischt werden. Allerdings gilt es zu bedenken, dass die Gesellschaft sich die Ausbildung der jungen Generation viel kosten lässt. Und zur Freiheit gehört immerhin auch Verantwortung. Eine freiheitliche Gesellschaft kann sich nicht darauf beschränken, möglichst viele individuelle Freiheiten zu garantieren. Es ist auch wichtig, die freiheitliche Ordnung zu sichern. Dazu kann ein Dienst an der Gesellschaft beitragen.

Hinzu kommt ein unabweisbarer Bedarf an mehr Verteidigungsbereitschaft (wegen der geopolitischen Lage) auf der einen und der Unterstützung sozialer Einrichtungen aller Art (wegen der demographischen Entwicklung) auf der anderen Seite. Im Moment bestehen große Schwierigkeiten, diesen Bedarf mit regulär Beschäftigten zu decken, ohne eine Kostenexplosion zu erzeugen. Das Gegenargument liegt auf der Hand: Sollen wir wirklich jungen Menschen ein Lebensjahr rauben, um Geld zu sparen und dabei noch Amateure in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen anstellen? Ist das nicht eine beispiellose Fehlallokation?

Das Argument des geraubten Lebensjahres stimmt allenfalls nur partiell. Heute haben viele Jugendliche direkt nach dem Abschluss an der Schule noch keine richtige Vorstellung davon, welche Ausbildung sie beginnen sollten. Viele verbringen ein Jahr oder Teile davon im Ausland, um dort zu arbeiten oder als Freiwillige tätig zu sein, oder dienen bereits hierzulande freiwillig in sozialen Einrichtungen. Hier fände mit Einführung eines Pflichtjahres lediglich eine Umdeutung statt.

Ein Pflichtjahr für sämtliche jungen Menschen ab 18 könnte somit Verteidigungsbereitschaft, Sozialwesen und die Sinnstiftung für junge Leute miteinander verbinden. Es würde unter Umständen dabei helfen, ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern. Dazu wäre es natürlich nötig, die Ausgestaltung eines solchen Jahres flexibel und modern zu gestalten. Das Jahr könnte in zwei oder drei Abschnitte mit ganz unterschiedlichen Diensten aufgeteilt werden. Man kann auch darüber nachdenken, eine europäische Lösung zu suchen – inklusive Auslandserfahrung.

Dies ist kein absolutes Plädoyer für eine Wehrpflicht, aber eines für eine offene Diskussion darüber und eine genaue Untersuchung der Bedingungen, unter denen ein gesellschaftliches Pflichtjahr für junge Menschen ein Erfolg werden könnte – in dem Sinne, dass die Interessen der Jugendlichen genauso berücksichtigt werden wie der gesellschaftliche Zusammenhalt, die soziale Nachhaltigkeit und die Verteidigungsbereitschaft.

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