Freytags-Frage
Wahlplakate von SPD, CDU, Grüne, FDP. Quelle: imago images

Was steht am Sonntag auf dem Spiel?

Nur noch wenige Tage und die Bundesrepublik Deutschland hat einen neuen Bundestag. Die Parteien können dabei in zwei Lager aufgeteilt werden: bürgerlich und progressiv. Und die Unterschiede sind so groß wie selten.

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Am Sonntag wird ein neuer, der insgesamt 20., Deutsche Bundestag gewählt. Diese Wahl dürfte – ungeachtet des öden Wahlkampfs – eine der wichtigsten Wahlen der Nachkriegszeit werden. Denn lange nicht standen sich zwei Positionen so scheinbar unversöhnlich gegenüber. Hier die marktwirtschaftlich orientierte, im Wesentlichen auf die individuelle Verantwortung setzende sogenannte bürgerliche Mitte, repräsentiert von den Freien Demokraten (FDP), des Großteil der Union (CDU/CSU) und kleinen Teilen der Grünen und der Sozialldemokraten (SPD); dort die selbsternannten Progressiven, bestehend aus der Mehrheit der Grünen und der SPD sowie der Linken, die auf den Staat als wirtschaftlichen Akteur, milde Erziehungsinstanz und großzügigen Helfer in der Not setzen. Die Fundamentalopposition von Rechtsaußen kann zwar klare Mehrheiten verhindern, hat aber keine ernsthaften Inhalte zu bieten.
Diese Unterschiede der beiden Lager in der Wahrnehmung der Rollenverteilung zwischen dem Staat sowie den Bürgern und Unternehmen sind in ihrer Bedeutung für die Zukunft des Landes nicht zu unterschätzen. Denn die jüngsten Krisen haben gezeigt, dass wir in Deutschland dabei sind die Zukunft zu verschlafen.

Die Bereitschaft zur Veränderung ist gering, wir sind gemütlich geworden. Das zeigt sich zum Beispiel in Problemen der Verwaltung, in der Fähigkeit der Universitäten und der Wirtschaft, Innovationen hervorzubringen, dem viel zu engstirnigen und bürokratischen Umgang mit der Klimakrise, oder in bildungspolitischen Versäumnissen, deren Folgen bereits jetzt auf dem Arbeitsmarkt spürbar sind: Die Wirtschaft sucht händeringend Nachwuchs, während knapp die Hälfte der Studenten von einer Karriere im öffentlichen Dienst träumt. Außerdem ist die marktwirtschaftliche Ordnung durch eine aktive Industriepolitik der letzten Jahre angegriffen worden.

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Es zeigt sich aber auch außenpolitisch. Deutschlands Rolle in der Welt war wohl selten so unartikuliert und schwach wie zur Zeit: Wir sind unsicher im Umgang mit Autokratien wie Russland, China oder der Türkei, und innerhalb der Europäischen Union scheint die Führungsrolle sich immer weiter nach Paris zu verlagern. Die wütende Reaktion der französischen Regierung auf die – geopolitisch durchaus nachvollziehbare – Kündigung des U-Boot-Deals durch die australische Regierung ist ein Anzeichen für beides: Die Beziehung zu China, aber auch zu den westlichen Partnern bleibt dadurch undefiniert, und in Europa kann der französische Präsident offenbar handeln, wie er will. Das könnte Europa international weiter marginalisieren und für die deutsche Wirtschaft und viele Arbeitnehmer dramatische Konsequenzen haben. Dies ist aber weder ein Wahlkampfthema, noch hört man dazu etwas aus der Bundesregierung.

Wenn wir in und für Deutschland die anstehenden Herausforderungen meistern wollen, müssen wir uns auf Veränderungen einstellen. Die Produktionsstrukturen müssen umweltfreundlicher, Wirtschaft und Verwaltung insgesamt moderner, das heißt konkret digitaler werden. Wir brauchen enorme wirtschaftliche Dynamik, und das ganze mit so wenig sozialen Verwerfungen wie möglich. Bürokratieabbau und Digitalisierungsoffensiven sind unabdingbar. Politisch müssen wir uns neu aufstellen innerhalb Europas, aber auch innerhalb der globalen Ordnung. Denn viele unserer Probleme werden nicht nur bei uns zu lösen sein; man denke nur an den Klimaschutz, der ein globales öffentliches Gut ist. Unsere Bemühungen machen nur Sinn, wenn sie mit globaler Klimapolitik kongruent sind.

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Diese Herausforderungen kann man in der Tat sehr unterschiedlich angehen, was dieser Wahlkampf zumindest ansatzweise zeigt. Die Erfolgsaussichten sind aber nicht gleich, wie der Blick auf die beiden grundsätzlich unterschiedlichen Ansätze der sich gegenüberstehenden Lager, nennen wir sie etwas vereinfachend bürgerlich und progressiv, zeigt.

Beginnen wir mit der progressiven Lösung, die leider nur auf den ersten Blick progressiv ist: Der Staat kann vieles gut und manches überhaupt nicht leisten. Das zeigt die Geschichte. Am besten sind staatliche Akteure bei der Durchsetzung von Regeln, der Bereitstellung echter öffentlicher Güter wie Sicherheit und sozialem Zusammenhalt (durch Bildungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik). Die Vorstellung, dass der Staat ein guter Unternehmer ist, ist durch empirische Evidenz nicht gedeckt.

Ganz im Gegenteil, dort wo Regierungen die Wirtschaft lenken, sind Innovationen Fehlanzeige und schnelle Reaktionen auf Strukturwandel bleiben aus. Bürokratieabbau findet dann gerade nicht statt. Gerade für den Klimaschutz ist eine Command-and-Control-Wirtschaft kontraproduktiv. Auch die neuen Vorstellungen der versammelten deutschen Linken zum Nutzen höherer Steuern für Leistungsträger und höherer Staatsverschuldung mit Hilfe der Notenpresse sind nicht vereinbar mit wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Gerechtigkeit; übrigens auch nur schwer mit der Idee von Freiheit und Demokratie.

Viele Unternehmen fürchten um ihren Fortbestand, sollte die Vermögensteuer wieder eingeführt werden. Es droht dann eine Zombie-Wirtschaft mit hohen durchschnittlichen Inflationsraten. Das ist die schlechte alte Stagflation und nicht im Geringsten progressiv. Hinzu kommen abenteuerliche Vorstellungen zur Vergesellschaftung relevanter Unternehmen der Wohnungswirtschaft oder der Daseinsvorsorge, die besonders investitionsfeindlich zu sein scheinen. Enteignungen schaffen keinen Wohnraum und sind auch deshalb nicht sozial gerecht. Wie sich das progressive Lager die internationale Ordnung vorstellt, ist unklar. Von Begeisterung für Chavez und Putin hin zur klarer Kante gegenüber China ist alles dabei – insgesamt ist die Positionierung zu diesem Themenkomplex nicht vertrauenserweckend.
Das alternative bürgerliche Angebot ist da vorzuziehen. Um den Klimawandel zu bewältigen, brauchen wir die Kreativität sämtlicher Unternehmen und Konsumenten mit Hilfe marktwirtschaftlicher Anreize, ohne dass der Staat sich zurückzieht. Er kann und muss strenge Klimaziele setzen, aber er darf nicht auch noch vorschreiben, mit welcher Technologie diese zu erreichen sind. Er muss für den sozialen Ausgleich sorgen, ohne die Dynamik zu behindern.
Steuern sind in Deutschland im internationalen Vergleich schon heute sehr hoch und darüber hinaus intransparent und komplex. Es wird im Grunde genommen Zeit für eine echte Steuerreform, die die Sätze senkt und die Bemessungsrundlage erhöht und dabei gleichzeitig das ganze System vereinfacht. Der Wohnungsmarkt muss mit Augenmaß reguliert werden; ein Teil der Preiserhöhungen für Immobilien und der Mietsteigerungen kann auf die Geldpolitik, ein anderer größerer Teil auf die Zuwanderung in großen Städten zurückgeführt werden. Hier hilft kein einfaches schwarz-weiß-Denken. Schließlich sieht das bürgerliche Angebot vor, dass die Märkte international offen zu halten sind und die multilaterale Ordnung zu schützen ist. Zusammengefasst kann man den vorsichtigen Versuch erkennen, die soziale Marktwirtschaft wiederaufleben zu lassen, um diesen Herausforderungen erfolgreich begegnen. Das geht dann einher mit einer recht klaren Orientierung in die westliche Welt und dem Bewusstsein für die Bedrohungen durch die Autokratien.

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Natürlich wird nach der Wahl keine der eben beschriebenen Plattformen und Weltsichten in ihrer reinen Form durchgesetzt werden, aber es ist durchaus eine Richtungsentscheidung, die am Sonntag getroffen wird. Trauen wir den Menschen zu, in Eigenverantwortung die Herausforderungen anzugehen, oder glauben wir an die segensreiche Kraft und Weisheit der staatlichen Akteure, die mit Subventionen, Geboten und Verboten unser Leben steuern wollen? Es steht am Sonntag viel auf dem Spiel!

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