In der vergangenen Woche hat die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi nach zähen und erfolglosen Verhandlungen mit dem Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe mit einem langen Warnstreik die Häfen lahmgelegt und damit zu einer erheblichen Verlängerung der Umschlagdauer der Waren beigetragen. In der Nordsee stauen sich die Containerschiffe. Angesichts der ohnehin schon stark beschädigten internationalen Lieferketten sehen Fachleute hierin ein fundamentales Problem für die Häfen und damit langfristig für die Beschäftigten selber.
In anderen Ländern und anderen Sektoren wurde jüngst ebenfalls mehr gestreikt als in den Jahren zuvor. Es geht fast immer um Inflationsausgleich. Es ist natürlich verständlich, dass die Beschäftigten angesichts der hohen Inflation und der vor allem stark gestiegenen und vermutlich im Laufe der nächsten 12 Monate noch stärker steigenden Energiepreise einen hohen Reallohnverlust erwarten und verhindern wollen. Dennoch erscheint eine Forderung von 14 Prozent Gehaltssteigerung bei einjähriger Laufzeit recht hoch zu sein. Und ob ein Streik angesichts eines Angebots von 12,5 Prozent mehr Lohn (bei etwa zweijähriger Laufzeit) wirklich gerechtfertigt ist, muss bezweifelt werden, vor allem angesichts der gesamtwirtschaftlichen Lage.
Insgesamt fühlt man sich erinnert an die Reaktion der der damaligen Gewerkschaft für den Öffentlichen Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV), die später mit anderen Dienstleistungsgewerkschaften zur heutigen Verdi fusionierten, auf die Ölkrise des Jahres 1973. Nach dem Ölpreisschock setzte die ÖTV unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Heinz Kluncker – auch motiviert durch die hohen Abschlüsse der Industriegewerkschaften – in der Lohnrunde 1974 eine Lohnerhöhung von 11 Prozent durch. Dieser und die anderen Lohnabschlüsse trugen maßgeblich zur anschließenden konjunkturellen Krise bei.
Außerdem wurde immer wieder behauptet, dass dieser Abschluss auch ein wesentlicher Grund des Rücktritts von Bundeskanzler Willy Brandt im Jahre 1974 war; dies kann wohl mit Recht als Verleumdung bezeichnet werden. Diese Bemerkung ist nur deshalb wichtig, weil auch heute über die Konsequenzen von überhöhten Lohnabschlüssen nachgedacht werden muss. Die Gefahr, dass die Bundesregierung stürzt, kann jedenfalls ausgeschlossen werden.
Dessen ungeachtet sind sowohl Arbeitskämpfe gerade in den Sektoren, die gegenwärtig Engpässe darstellen, als auch Lohnabschlüsse in zweistelliger Höhe für die gesamtwirtschaftliche Lage gefährlich. Zunächst bedeutet eine weitere Verzögerung beim Handel eine Ausweitung der bereits deutlich spürbaren Lieferengpässe in der Industrie. Der Lockdown in China, der nun an ein Ende zu kommen scheint, hat wesentlich dazu beigetragen. Aber auch die Verteuerung der fossilen Energieträger und vieler Lebensmittel durch den russischen Überfall auf die Ukraine sorgt für Stockungen im Warenfluss. Eine Bestreikung der Engpässe wirkt progressiv verstärkend – was schließlich der Grund für den Ausstand das Beschäftigen der Seehäfen ist.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Lohnerhöhungen im zweistelligen Bereich, zumal wenn sie flächendeckend sein würden, wirken außerdem inflationstreibend, indem sie eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen können.
Als Ergebnis verstetigt sich die Inflation und sorgt für weitere Verteilungsdiskussionen und Arbeitskämpfe. Dies träfe besonders diejenigen, die entweder kein – eventuell steigendes – Einkommen erzielen, weil sie im Studium, arbeitslos oder im Ruhestand sind, sehr hart. Aber es wird auch viele Unternehmen mit ihren Beschäftigten treffen. Natürlich wäre es völlig verkehrt, die Gewerkschaften und ihre Mitglieder ursächlich für die Inflation verantwortlich zu machen – es ist immer noch die Europäische Zentralbank (EZB) die Hauptverantwortliche. Starke Lohnerhöhungen würden der EZB aber eine Ausrede bieten, den Kampf gegen die Inflation weiterhin so wenig entschlossen zu führen wie bisher.
Möglicherweise entstehen sogar strukturelle Probleme durch die Arbeitskämpfe und die daraus resultierenden Lohnabschlüsse, wenn zum Beispiel im vorliegenden Fall die Reedereien sich von den deutschen Häfen abwenden und ihr Geschäft auf Antwerpen und Rotterdam konzentrieren. Dann hätten die Beschäftigten nicht nur der Gesellschaft insgesamt geschadet, sondern sich selber sozusagen aus dem Arbeitsplatz gestreikt.
Vor diesem Hintergrund kann man den Gewerkschaften nur empfehlen, sich aufmerksam mit der jüngeren deutschen Geschichte zu befassen. Die heftigen Lohnsteigerungen nach der ersten Ölkrise 1973/74 haben erheblich zur anschließenden Arbeitslosigkeit beigetragen, die sich in den Dekaden danach verfestigte.
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In der Zeit nach den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 im Jahre 2003 hingegen haben die Gewerkschaften sehr verantwortungsvoll agiert. Anstatt starker Lohnsteigerungen gab es enorme Beschäftigungszuwächse und deutlich verringerte Arbeitslosigkeit. Das sollte der Maßstab für ihr Handeln sein.
Angesichts der gegenwärtigen Mismatch-Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt – Fachkräftemangel auf der einen, Langzeitarbeitslosigkeit auf der anderen Seite – spricht somit viel für moderates Auftreten der Gewerkschaften. Natürlich müssen die Preissteigerungen für die Beschäftigten abgefedert werden und sollten auch die Arbeitgeber Verantwortung übernehmen. Aber es spricht wenig dafür, in nutzlose konfliktreiche Arbeitskämpfe zu investieren. Besser ist es, in konstruktiven Verhandlungen den Spielraum für alle Beteiligten so auszuloten, dass möglichst wenige Unternehmen in Schwierigkeiten geraten und Arbeitsplätze abbauen und dabei trotzdem die Arbeitnehmer so geringe Reallohneinbußen wie möglich haben.
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