Freytags-Frage
Die Ampel hat ihrem Koalitionsvertrag das Motto „Mehr Fortschritt wagen“ gegeben. Quelle: dpa

Wie modern ist der Ampel-Koalitionsvertrag wirklich?

SPD, Grüne und FDP versprechen in ihrem Koalitionsvertrag eine Modernisierung. Doch die Mittel zur Erreichung der ambitionierten Ziele scheinen wenig ausgegoren. Die Koalition sollte mehr Marktwirtschaft wagen.

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Seit Mittwoch steht die Ampel-Koalition, zumindest wenn nicht auf den letzten Metern die Basis der Grünen einen Riegel davorschiebt. In etwa zehn Tagen wird dann der neue Bundeskanzler Olaf Scholz gewählt werden. Damit endet eine lange Ära Merkel und beginnt – wenigstens formell – eine neue Zeit unter sozialdemokratischer Führung. Ob sich viel ändert, muss sich zeigen. Denn bereits in den letzten acht Jahren haben sich die Sozialdemokraten (SPD) regelmäßig mit ihren Positionen durchgesetzt, ohne dass sie dies angemessen politisch haben ausschlachten können. Erst wenige Woche vor der Bundestagswahl wurde die Chance auf eine Kanzlerschaft Scholz real.

Wie der nun vorliegende Koalitionsvertrag zeigt, wird sich wohl sehr viel ändern. Mit der großkoalitionären Bräsigkeit soll nun Schluss sein. Die Ampel-Koalitionäre haben recht vollmundig eine Modernisierung Deutschlands angekündigt – diese stand unter Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Olaf Scholz nicht im Mittelpunkt der Politik. Deren politische Visionen waren eher durch ein „Weiter so“, „Sie kennen mich“ oder ähnlich beschrieben. Der Koalitionsvertrag zwischen SPD, den Grünen und den Freien Demokraten (FDP) hat schon im Titel „Mehr Fortschritt wagen“ ein Modernisierungsversprechen. Darüber hinaus erinnert der Titel an das den berühmten Slogan „Mehr Demokratie wagen“ der sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt.

In der Tat stecken in dem Papier revolutionäre Vorstellungen für eine Zeit ohne fossile Energieträger. Die Koalitionäre wollen die Wirtschaft transformieren, um Deutschlands Beitrag zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels zu leisten. Dies ist ambitioniert, aber notwendig. Dafür müssen in allen beteiligten Sektoren, das heißt der Landwirtschaft, der Industrie, dem Verkehr, der Stromversorgung und dem Gebäudesektor erhebliche Veränderungen stattfinden. Jeder Bürger muss gleich an mehreren Stellen enorme Einsparungen an CO2 leisten. Das wird teuer und vor allem mit erheblichen Veränderungen der täglichen Routinen einhergehen.

von Sonja Álvarez, Max Haerder, Cordula Tutt, Christian Ramthun, Sophie Crocoll

In diesem Feld werden sehr viele detaillierte Vorstellungen geäußert. Es werden zu vielen Sektoren recht genaue Vorstellungen über deren Entwicklung geäußert, detailliert werden Technologien beschrieben. Regelmäßig ist von Förderung die Rede, ohne dass klar wird, ob es sich um bessere Regeln oder mehr Geld handelt. In dem Kapitel unter der Überschrift „Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ fehlen allerdings leider zwei ganz wichtige Aussagen. Erstens gibt es kein klares Bekenntnis zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Zweitens fehlt ein überzeugendes Konzept, das tatsächlich effektiven Klimaschutz gewährleistet. Dabei ist es genau diese Kombination, nämlich klar im Zeitablauf fallend definierte und streng durchgesetzte Emissionshöchstgrenzen und eine marktwirtschaftliche auf Wettbewerb basierende Ordnung zur Ermöglichung des benötigten Strukturwandels, die Klimaschutz ermöglicht, ohne den Wohlstand breiter Schichten zu zerstören. Hier wurde eine Chance vertan, die Regierung verliert sich im Klein-Klein. Es ist deshalb wichtig, dass der künftige Wirtschaftsminister sich hier noch einmal kundig macht und mit den richtigen Beratern und hochgestellten Beamten umgibt. Der Finanzminister könnte hier assistieren.

Klimaschutz im Koalitionsvertrag

Auch in der für den Klimaschutz sehr wichtigen Wissenschaftsförderung drängt sich der Eindruck der Hayek‘schen Anmaßung von Wissen auf. Bei genauem Hinsehen verfliegt der Eindruck jedoch: So werden auf Seite 20 des Koalitionsvertrags sechs zentrale Zukunftsfelder genannt. Eine solche Auflistung ist entweder sehr gewagt, wenn sie eng ist. Oder sie ist inhaltslos, wenn sie sehr weit gefasst ist. Letzteres ist hier der Fall. Vermutlich hätte man eine Handvoll Besucher einer Einkaufspassage um ihre Einschätzung der zentralen Zukunftsfragen bitten können, und es wäre dasselbe herausgekommen. Davon abgesehen steht vieles über Bildung und Forschung im Vertrag, dem man zustimmen kann, wenn nicht muss.

Nach wochenlangen geheimen Gesprächen präsentieren die Ampel-Parteien ihren mit Spannung erwarteten Koalitionsvertrag. Die Aufmerksamkeit ist gerechtfertigt, doch das Papier wenig aussagekräftig.
von Max Haerder

Darüber hinaus soll Deutschland – auch mithilfe der Wissenschaft – digital werden, was besonders für die öffentliche Hand eine sehr große Herausforderung darstellt. Es geht nicht nur um tägliche Verwaltungsroutinen, sondern auch um die Arbeitsagenturen und Gesundheitsämter. Auch die Gesundheitsversorgung und der Bildungssektor sollen mithilfe digitaler Technologien modernisiert werden. Das bedeutet milliardenschwere Investitionen in die Infrastruktur und Ausstattung der Behörden. Und es erfordert intellektuelle und mentale Anstrengungen der beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Das führt zur dritten großen Herausforderung, der Entbürokratisierung des täglichen Lebens und der öffentlichen Investitionen. Die oben erwähnte Bräsigkeit im Zusammenhang mit einer weit verbreiteten etwas asymmetrischen Haltung in der Bevölkerung über das Verhältnis ihrer Rechten und Pflichten, das der Sozialstaat geschaffen hat, erschweren schon seit längerem den Ausbau der Infrastruktur und insbesondere der erneuerbaren Energie, der unabdingbar ist, will man die Klimaziele auch nur annähernd erreichen. Aber auch in allen anderen Bereichen des Lebens muss die Bürokratie entstaubt werden.

Sozialpolitik im Koalitionsvertrag

Die Ampel-Koalition sieht gleichzeitig einen erheblichen Bedarf, die Sozialpolitik umzubauen. Der Mindestlohn wird erhöht, und ein Bürgergeld soll eingeführt werden. Der Wohnungsmarkt soll durch erhöhte Bautätigkeit (bei Bürokratieabbau in dem Feld) und weiterhin strenge Regulierung der Mieten wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Zusätzlich haben die Koalitionäre über eine gerechtere und niedrigere Besteuerung des Grunderwerbs nachgedacht. In der Rentenpolitik soll die private Säule reformiert werden. Sozialpolitisch kann man somit einen Modernisierungskurs erkennen.

In der Außen- und Sicherheitspolitik wird anerkannt, dass die innere Sicherheit von überragender Bedeutung ist. Entsprechend wird die Ausstattung von Polizei und Justiz als unzureichend betrachtet und eine Aufwertung des Sicherheitsapparates angekündigt. Deutschlands Rolle in der Welt wird ausführlich und mit Realitätssinn skizziert. Die transatlantischen Beziehungen werden als zentral herausgestellt, die Beziehungen zu China werden sehr kritisch gesehen, und die Beziehungen zu einer Reihe anderer Länder werden einzeln kurz analysiert.

Entwicklungsarbeit im Koalitionsvertrag

Leider ist es der Ampel nicht gelungen, die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) enger mit dem Klimaschutz zu verzahnen. Dazu hätte es zunächst eines klareren Bekenntnisses zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Afrika bedurft. Der Umstand, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) genauso weiterläuft wie bisher und die Zielvorgaben der Entwicklungshilfe eingehalten werden sollen, legt weiterhin nahe, dass die Bundesregierung den traditionell paternalistischen, recht wirtschaftsfeindlichen und deswegen auch häufig ineffektiven Zugang zur EZ nicht aufgeben möchte. Auch hier bestünde eine gute Chance für den neuen Wirtschaftsminister, Klima, Wirtschaft und EZ zum Wohle des Klimas, der deutschen Wirtschaft und afrikanischer Länder zusammenzubringen. Er sollte dringend nachbessern.

Der Erfolg der Koalition hängt nicht nur an Ordnungsfragen, sondern auch am Geld. Hier scheint sich die Vernunft insoweit durchgesetzt zu haben, als dass die Schuldenbremse unangetastet bleibt und auch die Gemeinschaftsverschuldung auf europäischer Ebene nicht geplant zu sein scheint. Zur Finanzierung der vielen Aktivitäten ist stattdessen vorgesehen, alle Ausgaben zu überprüfen und zuvorderst die ökologisch zweifelhaften und anderweitig schädlichen Subventionen zu durchforsten. Laut Bundesumweltamt wurden in 2019 etwa 65 Milliarden Euro für umweltschädliche Subventionen ausgegeben. Damit kann man eine Menge Gutes tun.

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So bleibt ein gemischter Eindruck. Die Ziele sind richtig und modern, die Mittel zur Erreichung dieser Ziele scheinen wenig ausgegoren zu sein beziehungsweise einem Kompromiss zu entspringen, der am besten mit den Worten „Ordnungsrecht statt Ordnungspolitik“ beschrieben ist. Die Mehrheit der Verhandler traut den Unternehmen und Bürgern offenbar nicht über den Weg und will deshalb soviel wie möglich vorschreiben. Das gefährdet im Zweifel den Modernisierungsplan massiv. Deshalb sollte innerhalb und außerhalb der Koalition alles unternommen werden, um marktwirtschaftliche Elemente zu stärken und die Planwirtschaft zurückzudrängen. Wenn dies gelingt, könnte ein großer Wurf gelingen. Ansonsten werden Klima und Wohlstand gleichermaßen unter Druck geraten. Das kann keiner wollen.

Mehr zum Thema: Mindestlohn und Superabschreibungen, Industriepolitik und Windkraftoffensiven, kreatives Haushalten: Die künftige Ampelkoalition startet mit vielen Ideen – und lässt noch einige Details offen. Die WiWo-Analyse.

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