Freytags-Frage
Wie wird 2022? Quelle: AP

Wie wird 2022 werden?

Was kommt bei Corona-Beschränkungen, der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft, Inflation, Energieversorgung, Klimawende, den Konflikten mit China und Russland und Flüchtlingsströmen auf uns zu? Szenarien für 2022.

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Nach dem zweiten Corona-Jahr hat sich das tägliche Leben in Deutschland, aber auch anderswo, beträchtlich verändert. Persönliche Treffen und ausgedehnte Reisetätigkeit sind deutlich reduziert worden, die Arbeitswelt ist zunehmend kontaktlos geworden, für viele junge Menschen haben sich die Bildungschancen verschlechtert, Kunst und Kultur spielen im öffentlichen Leben eine abnehmende Rolle. Vor diesem Hintergrund stellen sich viele die bange Frage, wann und ob sich wieder Normalität einstellen wird. Dabei weiß ja im Grunde genommen niemand, was eigentlich unter Normalität zu verstehen ist.

Denn die Allgegenwärtigkeit der Pandemie hat ein wenig den Blick auf andere strukturelle Veränderungen und Probleme verstellt. Da ist einmal der Klimawandel zu nennen, den die Europäische Union (EU) verbal sehr beherzt adressiert – der Schwur kommt bei den ökonomischen Konsequenzen einer effektiven Klimapolitik.

Daneben beschäftigen die Europäer ihre Beziehungen zu den Vereinigten Staaten (USA), Russland und China offensichtlich ähnlich stark wie ihre internen Schwierigkeiten mit den Regierungen Ungarns, Polens und Tschechiens. In Deutschland gibt es darüber hinaus mindestens vier ernsthafte Herausforderungen: die Digitalisierung, der demographische Wandel, die Ineffizienz der öffentlichen Verwaltung und der Investitionsstau in der öffentlichen Infrastruktur.

Insofern lohnt sich ein Blick in die Glaskugel. Wie wird das kommende Jahr werden? Wird die sich anbahnende Spaltung der Gesellschaft abbremsen? Wird die Geldentwertung so dynamisch wie in diesem Jahr bleiben? Wird sich die Wirtschaft erholen? Meistern wir die digitalen Herausforderungen an die Gesellschaft? Wird es viele Pleiten geben, die dank der Coronahilfen bislang noch nicht absehbar sind? Wird die Energieversorgung sicher bleiben? Wird die Klimaveränderung zu den richtigen politischen Reaktionen innerhalb und außerhalb Deutschlands führen? Werden die internationalen Wanderungsströme nach Europa wieder zunehmen? Können die Beziehungen zu Russland und China stabilisiert werden?

Ein Instrument zur Annäherung an zukünftige Entwicklungen ist die Bildung von Szenarien. Dabei wird anhand von (zur leichteren Beherrschbarkeit meist zwei) Megatrends die Zukunft abgeschätzt, ohne dabei unbedingt theoretisch saubere Ableitungen zu betreiben oder Wahrscheinlichkeiten zu berücksichtigen. Szenarien helfen dabei, sich ohne theoretische oder statistische Einschränkungen über mögliche Entwicklungen in der Zukunft Gedanken zu machen. Wer sich mittels Szenarien in den 1980ern mit einem möglichen Fall des Eisernen Vorhangs und der innerdeutschen Mauer beschäftigt hatte, war nach 1989 sicherlich besser auf die vielen Veränderungen vorbereitet als jemand, der diesen Strukturbruch für höchst unwahrscheinlich hielt und sich deshalb erst gar nicht damit beschäftigte. Für das kommende Jahr kann man solche Szenarien mit Hilfe der beiden Megatrends Internationale Beziehungen und Rationalität der Bundesregierung im Umgang mit den Herausforderungen aufstellen, um das Feld möglicher Entwicklungen abzustecken.

Das ändert sich 2022
Ab dem 1. Januar dürfen an den deutschen Ladenkassen keine Einkaufstüten aus Plastik mehr angeboten werden. Quelle: dpa
Porto Die Deutsche Post plant angesichts steigender Löhne und Kosten zum 1. Januar höhere Portogebühren. Quelle: imago images / photothek
2022 steigt die CO2-Steuer. Das wirkt sich unter anderem auf Kraftstoffpreise au. Quelle: dpa
Zum 1. Januar wird das elektronische Rezept für Arztpraxen grundsätzlich zur Pflicht. Quelle: dpa
Kurzentschlossene können bei der Deutschen Bahn ab 1. Januar keine Papierfahrkarten mehr im Zug beim Schaffner kaufen. Die Alternative: ein digitales Ticket Quelle: imago images/Panthermedia
Das millionenfache Kükentöten in der Legehennenhaltung wird im neuen Jahr ein Ende haben. Bisher wurden in deutschen Brütereien jährlich fast 45 Millionen männliche Küken getötet. Quelle: dpa
Mindestlohn Aktuell liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 9,60 Euro pro Stunde. Im neuen Jahr steigt er gleich zweimal: Zum 1. Januar 2022 soll er auf 9,82 und zum 1. Juli 2022 auf 10,45 Euro angehoben werden. SPD, Grüne und FDP wollen den Mindestlohn auf 12 Euro pro Stunde erhöhen. Nach der einmaligen Anpassung soll die unabhängige Mindestlohnkommission über etwaige weitere Erhöhungsschritte entscheiden, wie es im Koalitionsvertrag heißt. Quelle: dpa

Beginnen wir mit dem Negativszenario

Dabei verschlechtern sich die internationalen Beziehungen, weil Russland im Konflikt mit der Ukraine weiter eskaliert und China Ähnliches im Umgang mit Taiwan macht. Die Olympischen Winterspiele werden zudem zum Fiasko, weil einige Sportler Corona-bedingt nicht anreisen können, andere sich in Peking anstecken und die westlichen Regierungen, die ohnehin wegen der Verletzung der Menschenrechte in China nicht angereist waren, die chinesische Regierung für ihr Pandemiemanagement anschließend heftig kritisieren. Die chinesische Regierung reagiert wütend. Es kommt daraufhin zum Handelskonflikt, die USA rüsten im Pazifischen Ozean auf und die diplomatischen Beziehungen Chinas zu den USA und seinen Verbündeten (außer der EU, die wieder zögerlich reagiert), verschlechtern sich weiter. Die Europäer fürchten um ihre Exporte in den lukrativen chinesischen Markt und setzen sich somit zwischen alle Stühle.

Zugleich schafft es die Bundesregierung nicht, ihre Klimapolitik vernünftig auszugestalten, nachdem die Atomkraftwerke abgeschaltet wurden. An einigen diesigen und windstillen Tagen fällt in etlichen Regionen Deutschlands der Strom aus, worauf das Bundeskabinett beschließt, den Energieverbrauch zu rationieren und aus ihrer Sicht unnötigen Energieverbrauch für Reisen und Unterhaltung zu untersagen. Kohlestrom muss zusätzlich aus Polen importiert werden, worauf es in der Koalition zum Streit kommt und die EU in eine Krise gerät. Als Konsequenz verschärft die Bundesregierung überdies die Klimavorschriften für Bauherren und Hausbesitzer. Die Arbeitslosigkeit steigt in Deutschland, und der Finanzminister gerät in heftige Auseinandersetzungen mit den Koalitionspartnern wegen drohender hoher zusätzlicher Staatsschulden. Die Koalition droht zu platzen, und es drohen im Herbst Neuwahlen. Die Inflationsrate in Deutschland liegt nicht zuletzt wegen der Energieknappheit bei knapp acht Prozent, und in der Bevölkerung werden Proteste gegen den Klimaschutz und die Europäische Zentralbank (EZB) lauter, obwohl die EZB in diesem Fall nur indirekt beteiligt ist. Die Krise der EU wird stärker, zumal die neue französische Regierung seit dem Frühsommer laut über den Frexit, also das Ausscheiden Frankreichs aus der EU nachdenkt. Die Populisten von links und rechts schüren in Deutschland die Unzufriedenheit und den Hass. Die Spaltung der Gesellschaft wird so vorangetrieben, zumal die gemäßigten Stimmen in diesem Chaos nicht zu hören sind. Zu alledem kommt, dass die pandemiebedingten Störungen des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens weiterlaufen, wenn auch mit geringerer Intensität als im Herbst 2021. Insgesamt geht das Jahr 2022 als Annus Horribilis in die jüngere deutsche Geschichte ein.



Das positive Szenario

In diesem Szenario verbessern sich die Beziehungen des Westens mit China und Russland, weil es den Präsidenten Biden und Putin gelingt, gesichtswahrende Kompromisse zu finden, die den Ukraine-Konflikt deutlich lindern. In China erkennt die Regierung, dass ein allzu aggressiver Ton gegenüber westlichen Unternehmen und Politikern auf immer stärkere Gegenwehr trifft, und mäßigt sich. Die Corona-bedingten Probleme bei den Olympischen Winterspielen tragen dazu bei, zumal die ausländische Bewertung überaus wohlwollend und maßvoll ausfällt. Eine sehr positive Rolle spielt in beiden Fällen die Bundesaußenministerin, die in der Sache hart, im Ton aber konziliant auftritt. Weil das Kabinett von Beginn des Jahres an klare Schritte zur verbesserten Ausrüstung der Bundeswehr einleitet, steigt auch das globale Ansehen der deutschen diplomatischen Bemühungen.

Der Bundesregierung gelingt es außerdem im Verbund mit der Europäischen Kommission und der US-Regierung, einen ersten Klimaklub zu organisieren, der auf der auf der 27. Klimakonferenz in Ägypten beschlossen wird. Zahlreiche Entwicklungsländer sind interessiert, auch für China kommt der Beitritt in Frage, da ansonsten die Ausgleichszölle wegen zu geringer Anforderungen an Klimafreundlichkeit für chinesische Produkte einen erheblichen Wettbewerbsnachteil bedingen. Der Zusammenhang von Klima- und Entwicklungspolitik wird auf der Klimakonferenz weiter deutlich. Im Inland fährt die Bundesregierung einen konsequent marktwirtschaftlichen Kurs in der Klimapolitik (inklusive einer Umorientierung der Strompolitik hin zu mehr Rationalität) und kann so die deutsche Wirtschaft überzeugen und zum Mitmachen bewegen. Für viele Unternehmen wird es im Jahre 2022 attraktiv, ihre Energieversorgung weiter auf erneuerbare Energien umzustellen. Gleiches gilt für Private. Dabei wirken erheblich beschleunigte Verfahren zur Installation weiterer Wind- und Solaranlagen sowie erste Schritte zur Modernisierung und Erweiterung des bundesweiten Stromnetzes gegen Ende des Jahres vertrauensbildend. Insgesamt wird die Verwaltungspraxis besser.

Durch eine unaufgeregte Corona-Politik einschließlich einer generellen Impfpflicht steigert sich die Impfquote schnell zu Beginn des Jahres, die Lage an Schulen und Hochschulen normalisiert sich schrittweise, das öffentliche Leben einschließlich der Kultur wird wieder normaler, und die gesellschaftlichen Konflikte lösen sich auf – die unsäglichen Corona-Proteste finden immer seltener statt, weil die Menschen schlicht Besseres zu tun haben, als irgendwelchen Idioten hinterherzulaufen. Die Wirtschaft wächst wieder, und die öffentlichen Einnahmen steuern auf ein Rekordniveau zu. Dadurch ergeben sich weitere Spielräume für öffentliche Investitionen in den Klimaschutz sowie weitere Soziallleistungen. Der erheblich gesteigerte Mindestlohn wirkt nicht beschäftigungsfeindlich, steigert aber die Kaufkraft vieler Betroffener.

Vermutlich wird keines der beiden Extremszenarien eintreten. Ihr Sinn besteht ja auch nur darin, sich die möglichen Entwicklungen im kommenden Jahr vor Augen zu führen und Maßnahmen zu ergreifen, damit das zweite positive Szenario im Grundsatz möglich wird. Die Bundesregierung hat es zwar nur zum Teil in der Hand, kann aber wesentlich dazu beitragen. Gleiches gilt übrigens für die Bürger!

Mehr zum Thema: Das Ampel-Spitzengespräch: Verkehrs- und Digitalminister Volker Wissing und SPD-Chef Lars Klingbeil über Impfpflicht und Planungsturbo, das Vorbild Biontech und den Standort Deutschland.

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