Freytags-Frage

Haben Martin Schulz und Jean-Claude Juncker nichts verstanden?

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„Wir hier drinnen gegen die da draußen!“

Das entgegengesetzte Narrativ sieht in der EU einen Leviathan, einen krakengleichen Moloch, der die Menschen versklavt; Entscheidungen werden in Brüssel getroffen, die Menschen vor Ort hätten sie entgegenzunehmen; demokratisch sei das schon lange nicht mehr. Dieses Narrativ erträumt eine goldene Welt außerhalb der EU, im britischen Fall mit Freihandel ohne Freizügigkeit, im französischen (Le Pen) Fall Wohlstand ohne Importe: „Wir hier drinnen gegen die da draußen“!

Beide Narrative sind Zerrbilder. Richtig ist, dass es in Europa gelungen ist, sogenannte Erbfeinde zu befrieden; ihr Wettstreit findet auf Märkten für Güter und Dienstleistungen (und auf dem Fußballfeld) statt. Richtig ist auch, dass Länder mit völlig unterschiedlichen Vorstellungen einer angemessenen Wirtschaftsordnung, zum Beispiel Deutschland und Frankreich, sich in diesem fairen Wettstreit auf Märkten miteinander messen und dabei zu ähnlichem Wohlstand gekommen sind.

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Es ist wahrscheinlich gerade diese Verschiedenheit und ihre Akzeptanz, die die großartige Entwicklung eines Kontinents mit einer nie dagewesenen Friedensperiode ermöglicht hat. Richtig ist aber auch, dass die EU den europäischen Gedanken mit den Nationalstaaten versöhnt hat. Sie hat die Nationen aber nicht ersetzt.

Höhepunkt der Völkerverständigung

Während wir früher Bretonen und Franzosen, Holsteiner und Deutsche waren, sind wir heute zusätzlich noch Europäer. Deshalb stimme ich auch nicht mit dem lesenswerten Text von Navid Kermani, überschrieben mit „Auf Kosten unser Kinder“ überein. Während man emotional dem Wunsch des Autors nach Vertiefung folgen mag, ist er analytisch zu leicht, weil die Menschen immer noch eher nationale als europäische Öffentlichkeit sind.

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Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Stellen Sie sich vor, bei der Fußball-Weltmeisterschaft spielt nur noch eine europäische „Nationalmannschaft“, wären Sie ihr Fan?

Aus heutiger Sicht markiert die Errichtung des Europäischen Binnenmarktes einen Höhepunkt der europäischen Völkerverständigung, die gerade durch die Freizügigkeit vertieft wurde. Denn nur, wenn die Menschen sich begegnen, zusammen arbeiten, studieren und leben, bauen sie die Vorbehalte ab. Der Binnenmarkt ist mehr als ein rein wirtschaftliches Unterfangen; friedliche Konkurrenz ist auch eine große Kulturleistung.

Die Zustimmung zur EU war in den Neunzigerjahren umfassend und wurde nicht in Frage gestellt. Das müssen wir den heutigen Nationalisten von links und rechts entgegensetzen.

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