Freytags-Frage
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Wird die Gesellschaft lernen, mit Corona zu leben?

Die Delta-Variante ist gleich in doppelter Hinsicht beunruhigend: Man hat zum wiederholten Male den Eindruck, dass die Bundesregierung sich nicht auf die nächste Welle vorbereitet – und wenig Lernbereitschaft zeigt.

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Nachdem nun über die Hälfte aller Deutschen einmal und über ein Drittel doppelt gegen das Coronavirus geimpft sind, beginnt das Land spürbar aufzuatmen. Reisen scheint wieder möglich zu sein, Restaurants, Kinos und Sportarenen öffnen. Man trifft sich wieder; der Breitensport lebt auch wieder auf. Es zeigt sich, wie groß die Sehnsucht nach Normalität im Umgang ist.

Das betrifft keineswegs nur die Freizeit. Besonders wichtig ist die Wiederaufnahme eines geregelten Schul- und Universitätsbetriebes. Es wird zwar nur langsam offensichtlich, welche Verwerfungen der unregelmäßige Schulbetrieb und die virtuelle Universitätslehre verursacht haben, aber es dürfte unbestritten notwendig sein, nun endlich wieder die Präsenzlehre in den Vordergrund zu stellen. Auch die wirtschaftlichen und psychologischen Effekte der weiteren Öffnung sind bedeutsam.

Vor diesem Hintergrund müssen die Meldungen über den Vormarsch der Delta-Variante des Virus gleich in zweifacher Hinsicht beunruhigen. Zum ersten ist die Ausbreitung aus epidemiologischer Sicht bedrohlich. Sie verbreitet sich offenbar sehr schnell. Außerdem ist die Anfälligkeit auch Geimpfter und junger Menschen noch nicht völlig verstanden. Es besteht als Forschungsbedarf und Grund zur Vorsicht, vor allem auf individueller Ebene.

Der zweite Grund zur Beunruhigung liegt in der sich bereits ankündigenden politischen Reaktion, die sich nicht sonderlich von den Reaktionen auf die bisherigen Infektionswellen unterscheidet. Es werden Gebiete als Variantengebiete ausgewiesen, und Quarantäne-Vorschriften werden verschärft angewandt. Der Begriff Lockdown ist bisher nur in der Negation aufgetaucht, man will ihn vermeiden. Das heißt aber nicht viel, wie die Vergangenheit zeigt.

Man hat aber zum wiederholten Male den Eindruck, dass die Bundesregierung sich nicht auf die nächste Welle vorbereitet und wenig Lernbereitschaft zeigt. Das verwundert und erschreckt gleichermaßen. Denn man muss doch davon ausgehen, dass das Virus nicht nach der ersten globalen Impfkampagne verschwindet. Es wird mutiert wiederkommen. Das lehrt doch die Erfahrung mit dem Grippevirus, das jedes Jahr in veränderter Form auftaucht. Im Herbst wird regelmäßig eine – wenn auch weniger prominente – Impfkampagne gestartet, die dennoch nicht verhindert, dass in Deutschland viele Opfer zu beklagen sind. Sie werden aber nicht beklagt, wenigstens nicht öffentlich.

Dies lehrt uns erstens, dass die Gesellschaft sich offenbar an Risiken und deren Realisierung gewöhnt hat. Dies gilt für nahezu alle Risken des täglichen Lebens. Niemand wollte zum Beispiel einen Marathonlauf deshalb verbieten, weil sich mancher Teilnehmer überschätzt und zu Schaden kommt. Jeder Einzelfall ist tragisch, aber die Gesellschaft muss abwägen. Denn ohne Risiko kann es kein gesellschaftliches Leben geben. Vor diesem Hintergrund akzeptiert die Gesellschaft unterschiedliche Risiken und versucht, Kosten und Nutzen der Risikominimierung in einer vernünftigen Relation zu halten.

Zweitens lehrt uns die Erfahrung mit der Grippe, dass es höchste Zeit wird, auch das Corona-Risiko diesem Kalkül zu unterwerfen. Seit März 2020 wird das Corona-Risiko sehr hoch eingeschätzt und sehr viel unternommen, das Risiko der Infizierung und der schweren Erkrankung zu minimieren. Alle anderen Risiken gesundheitlicher, psychologischer, sozialer und wirtschaftlicher Natur werden – bewusst oder unbewusst – ignoriert beziehungsweise hintangestellt.

Je mehr Menschen geimpft sind beziehungsweise die Chance haben, sich impfen zu lassen, desto stärker müssen die anderen Risiken wieder in den Blick genommen und reduziert werden. Spätestens wenn alle Bürger ein Impfangebot bekommen haben werden, d.h. wenn etwa 160 Millionen Impfdosen zur Verfügung stehen, muss die Normalisierung vollkommen sein. Auslandsreisen, Schulbesuche, Fußballspiele, Kinobesuche sollten wieder unbeschränkt möglich sein. Wer sich nicht impfen lässt, weil er oder sie es nicht will, geht dann bewusst ein Risiko ein oder wird bei bestimmten Veranstaltungen ausgeschlossen. Wer aus objektiven Gründen nicht geimpft werden kann, muss Unterstützung erhalten, ohne dass das Leben aller anderen unzumutbar eingeschränkt wird.

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Insbesondere sollten die Schulen, Universitäten und andere öffentlichen Räume so umgestaltet werden, dass Infektionsrisiken verringert werden; das beträfe dann alle möglichen Infektionskrankheiten und wäre generell von Vorteil. Private Akteure haben vielfach einen automatischen Anreiz, Maßnahmen zur Reduzierung des Corona-Risikos zu ergreifen. Die Arbeitswelt hat sich bereits verändert und wird vermutlich nie wieder genauso sein, wie sie es vor März 2020 war. Darüber hinaus wäre es eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Akteure im Gesundheitswesen, nicht nur die Inzidenz des Coronavirus zu erfassen und veröffentlichen. Man sollte solche Zahlen für andere Krankheiten ebenfalls zusammenstellen und öffentlich machen. Dadurch werden Risiken bewusst gemacht und Handlungsoptionen sichtbar. Im Idealfall erfasst man auch die Häufigkeit der Realisierung anderer Risiken sozialer oder wirtschaftlicher Natur. So ergibt sich ein umfassendes Bild der Risiken, denen wir ausgesetzt sind. Daraus lassen sich Maßnahmen zur Minimierung des Risikomix ableiten.

Es darf auf jeden Fall nicht so bleiben, dass ein singuläres Risiko dauerhaft so überhöht wird, dass andere Problem systematisch unterschätzt oder gar ignoriert werden. Anders gewendet. Die Gesellschaft muss lernen, mit dem Coronavirus zu leben. Panik ist dafür ein schlechter Ratgeber.

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