Freytags-Frage
Quelle: imago images

Wird sich Deutschland in der Weltwirtschaft behaupten können?

Die weltweit wachsende Mittelschicht fordert neben mehr Wohlstand auch mehr Freiheit ein. Ist eine offene Marktwirtschaft noch das richtige Konzept für die Gegenwart? Eine Kolumne.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

In jüngster Zeit ist viel von Zeitenwende die Rede. Und tatsächlich kann man beobachten, dass sich die Rhetorik in Deutschland mit Blick auf die zukünftigen Herausforderungen gerade wandelt. Nicht nur fällt auf, dass Sicherheitsinteressen wieder ernster genommen werden. Auch der Umgang mit China und die drohende Abhängigkeit vom Reich der Mitte als Absatzmarkt und Bezugsquelle für Rohstoffe wird thematisiert. Insgesamt ist das Verständnis für das Zusammenwirken ökonomischer und politischer Interessen auf den Weltmärkten auch in deutschen Diskursen gewachsen.

Vielen dürfte klar geworden sein, dass unsere Handelspartner nicht nur wirtschaftliche Ziele verfolgen, sondern Handelsbeziehungen politisch interpretieren. Sei es als diplomatisches Instrument zum Aufbau von Beziehungen oder als Instrument der sogenannten Soft Power, mit dem Einflusssphären gesichert und Macht ausgeübt wird. Dies gilt zuvorderst für autokratisch regierte Länder, lässt sich aber sicherlich auch im Umgang mit unseren westlichen Partnern nicht immer ignorieren.

Hinter dieser Entwicklung stehen nahezu tektonische Veränderungen in der Welt, die sich direkt auf die weltwirtschaftlichen Beziehungen auswirken. In vielen Ländern droht nach einer langen und erfolgreichen Phase des Aufholens eine Entwicklung, die sich mit dem Begriff „Middle Income Trap‘ recht gut beschreiben lässt: Das Wachstum hat zu einer wachsenden Mittelschicht geführt, die nun neben mehr Wohlstand auch mehr Freiheit einfordert, damit aber nicht zu den Regierungen durchdringt. Die politischen Strukturen halten mit den wirtschaftlichen Erfolgen nicht Schritt. Der Wachstumsprozess gerät ins Stocken. Das sieht man in China, in Brasilien, der Türkei oder in Indien. Als Reaktion verliert die dortige Wirtschafts- und Handelspolitik an Offenheit und die Bereitschaft, multilaterale Regeln einzuhalten, sinkt.

von Max Haerder, Stephan Knieps, Angela Maier, Jürgen Salz, Dieter Schnaas, Christian Schlesiger, Martin Seiwert, Jörn Petring, Silke Wettach

Zu den Veränderungen zählt aber auch der Klimawandel, der in Entwicklungs- und Schwellenländern zunehmend ins Bewusstsein dringt, weil die Lebensbedingungen vielfach weiter erschwert werden – durch Extremwetterlagen, langanhaltende Dürren oder andere Katastrophen. Die politischen Akteure spüren die Herausforderungen und suchen die Lösung ebenfalls in eher nach innen gerichteten Maßnahmen. Das starke Bevölkerungswachstum sorgt für weiteren Druck in diesen Ländern.

Nicht zuletzt bringen diese Veränderungen auch in den Demokratien disruptive Entwicklungen mit sich. Der Wettbewerbsdruck aus Schwellenländern steigt; gleichzeitig verlieren die Absatzmärkte für die eigenen Produkte an Dynamik. Die Verunsicherung nimmt zu – ist eine offene Marktwirtschaft noch das richtige Konzept für die Gegenwart? Populisten von links und rechts versuchen mit einfachen Botschaften, die Unsicherheit in den Gesellschaften politisch zu nutzen. Die von ihnen vorgeschlagenen Konzepte klingen viel besser, als sie sind. Mit ‚Wir hier drinnen gegen die da draußen‘ lassen sich die Probleme nicht lösen. Das verständlich zu machen, fällt selbst rhetorisch gut geschulten Politikern oder Fachleuten nicht immer leicht.

Insgesamt ist die Welt also ungemütlicher geworden. Dies bedeutet auch, dass, wer sich behaupten will, robust auftreten und gut funktionierende Koalitionen schmieden muss. Man braucht eine hohe Widerstandskraft, neudeutsch Resilienz, einen langen Atem und gute Wettbewerbsbedingungen zu Hause, die die Flexibilität der Unternehmen und Arbeitskräfte in diesem Umfeld hochhalten. Ob das bei uns so gewachsene Verständnis für die Zusammenhänge ausreicht, um die heimischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Unternehmen hierzulande auf die zahlreichen und interdependenten Herausforderungen angemessen vorzubereiten, ist dabei noch lange nicht sicher. Zu oft lassen politische Vorschläge oder Aussagen aus Ministerbüros beziehungsweise Vorstandsetagen daran zweifeln.

Jüngstes Beispiel ist die am Dienstag dieser Woche veröffentlichte Afrika-Strategie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie enthält viele sinnvolle Ideen und ist aus einer moralischen Perspektive nachvollziehbar und zu begrüßen. Ihr Fokus auf ‚feministische Entwicklungspolitik‘ macht aber auch eine gewisse Unbedarftheit deutlich. Wer in Afrika – für Afrika und für sich selbst – etwas Positives bewirken will, sollte zunächst bescheiden und dann mit Blick für die Realitäten auftreten. Damit sich die deutsche Wirtschaft in den kommenden Jahrzehnten gut behaupten kann, brauchen wir keine moralischen Lektionen für afrikanische Regierungen, sondern eine gut abgewogene Mischung aus großzügiger Unterstützung dortiger Entwicklungsbemühungen und wirtschaftlicher Integration der willigen Partner vor Ort – dann können deutsche Unternehmen dort zunächst vornehmlich Ressourcen und später Halbwaren einkaufen sowie einen Absatzmarkt für unsere – hoffentlich bald überwiegend klimafreundlichen – Technologien schaffen.

Panzerdebatten, Wohlstandssorgen und verschämter Konsum: Rund ein Jahr nach Kriegsbeginn ist Deutschland hin- und hergerissen, sagt Rheingold-Chef Stephan Grünewald. Der Psychologe erklärt, wie die Nation tickt.
von Sonja Álvarez

Dazu bedarf es aber auch einer adäquaten Standortpolitik. Dem Wirtschaftsministerium – das zweite Beispiel für einen politischen Akteur, der noch nicht konsistent auf die Herausforderungen reagiert – fällt dazu vor allem eine umfassende Subventionierung des Umbaus der Energieversorgung deutscher Unternehmen mit vorgegebenen Technologien ein. Leitend scheint dabei die Vorstellung zu sein, der Staat sei der bessere Unternehmer als privat haftende Unternehmerinnen und Unternehmer und wisse genau um die zukünftig benötigten Güter und Technologien. Man nannte das früher Anmaßung von Wissen – das Bundeswirtschaftsministerium war in dieser Hinsicht in der Vergangenheit immer klar. Es hat eigentlich die Aufgabe, die Marktwirtschaft zu sichern, nicht sie zu untergraben.

Diese Politik der tiefen Taschen und kleinteiligen Vorgaben schafft Abhängigkeiten und lähmt innovatives Potential. Gerade letzteres müssen wir entfesseln. Viel effektiver wäre die Nutzung angebotspolitischer Stellschrauben in der Steuerpolitik, der Klimapolitik (Stichwort CO2-Zertifikate), der Verwaltungspraxis, dem Aufbau moderner Infrastruktur und der Migrationspolitik, um nur einige Baustellen zu nennen.

Exklusive BCG-Analyse Die 10 besten Aktien der Welt

Die politische Weltlage und Sorgen vor weiter hohen Zinsen verunsichern die Börse. Das exklusive Ranking der besten Aktien der Welt – und zehn Titel, die jetzt kaufenswert sind.

Finanzielle Freiheit Von Kapitalerträgen leben – wie schaffe ich das?

Ein Leser will seinen Lebensunterhalt mit aktivem Börsenhandel bestreiten. WiWo Coach Michael Huber erklärt, worauf man bei diesem Plan achten sollte, und rechnet vor, wie viel Grundkapital dafür nötig ist.

Baustoff-Innovation Die grüne Zukunft des Klimakillers Zement

In Schleswig-Holstein läutet Weltmarktführer Holcim die Dekarbonisierung der Zementproduktion ein. Aus dem Klima-Schadstoff soll ein Zukunftsgeschäft werden.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Aus der Wirtschaft regt sich Widerspruch, und das ist gut so. Denn die angesprochenen politischen Fehler können korrigiert werden. Eine Situation wie die gegenwärtige ist überdies auch nicht neu. Immer schon gab es Krisen, die zu lösen waren; und in der Weltwirtschaft gab es zum Beispiel protektionistische Tendenzen in den 1970er- und 1980er-Jahren. Am besten sind die Deutschen damit klargekommen, wenn sie eine marktwirtschaftliche Antwort fanden. Das gilt auch für diese Zeitenwende.

Lesen Sie auch: Bundespräsident Steinmeier skizziert Deutschlands neue Rolle: selbstbewusst, aber pragmatisch gegenüber unbequemen Partnern – und wehrhafter als früher.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%