Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie fahren mit dem Fahrrad durch Erfurt und müssen an einer roten Ampel anhalten, an der bereits ein bekannter Rechtspopulist aus dem Thüringer Landtag steht. Gegenüber steht eine SPD-Abgeordnete des Thüringer Landtags und sieht Sie mit diesem Herrn zusammen auf Grün warten. Sollten Sie jetzt bei Rot über die Ampel fahren, um nicht in den Verdacht zu geraten, mit Faschisten gemeinsame Sache zu machen? Natürlich nicht! Niemand erwartet, dass man sich in Lebensgefahr begibt, um nicht mit Menschen gesehen zu werden, die man nicht zu seinen Freunden zählen möchte.
Natürlich ist dieser Fall konstruiert und etwas absurd. Aber er beleuchtet ein Dilemma, in das demokratische Parteien bzw. deren Abgeordnete bei Abstimmungen auf allen parlamentarischen Ebenen schnell geraten können. Immer wieder passiert es, dass in Einzelfragen die Abgeordneten der sogenannten Alternative für Deutschland (AfD) zu ähnlichen Positionen gelangen wie die Abgeordneten der Parteien, die die demokratische Ordnung und das Parlament nicht verachten. Was ist dann zu tun?
Die Standardantwort aus der Politik lautet, man dürfe sich nicht mit der AfD gemein machen. Das klingt vordergründig erst einmal überzeugend, denn es dürfte in den meisten Politikbereichen möglich sein, Mehrheiten ohne die Populisten von rechts (wie ist es übrigens mit Populisten von links?) zu erreichen? Aber es gibt Fälle, bei denen es anders ist. Vermutlich haben schon überall in Gemeinde- oder Stadträten Abgeordnete aller Fraktionen gemeinsam gestimmt, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit. Darunter waren sicherlich auch regelmäßig Vertreterinnen und Vertreter der AfD. In Sachfragen zum Leben in der Stadt scheint dies unproblematisch. Dort geht es ja zumeist auch nicht um moralische Grundfragen, sondern um praktische Erfordernisse.
Wie ist es aber im Zusammenhang mit einem Thema von staatspolitischer Bedeutung wie der Ausstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) mit finanziellen Mitteln. In Sachsen-Anhalt tobt der Streit um die Frage, ob die Abgeordneten der Christdemokraten (CDU) dem neuen Staatsvertrag zur Finanzierung des ÖRR zustimmen oder nicht. Da die AfD-Abgeordneten auf jeden Fall dagegen stimmen, ist die Haltung der CDU-Fraktion entscheidend, denn rechnerisch stellen sie mit der AfD die Mehrheit im Landtag. Für die anderen Parteien der sogenannten Kenia-Koalition in Magdeburg, die Grünen und die Sozialdemokraten (SPD) ist es ein Unding, gemeinsam mit der AfD zu stimmen. Sie argumentieren, dass ein gleiches Stimmverhalten signalisiert, die CDU würde braun werden und drohen konsequenterweise mit Koalitionsbruch.
Aus verschiedenen Gründen der gleichen Meinung
Möglicherweise gehen sie damit erheblich zu weit. Denn es ist offenbar gerade nicht der Fall, dass hier zwei Fraktionen gemeinsam stimmen. Richtig ist vielmehr, dass zwei Fraktionen aus ganz unterschiedlichen Gründen der Erhöhung des Rundfunkbeitrages nicht zustimmen wollen.
Die CDU-Fraktion in Sachsen-Anhalt steht weiteren Beitragserhöhungen schon seit über einem Jahrzehnt, also länger als die Existenz der AfD, kritisch gegenüber. Die Begründung dafür ist nachvollziehbar und orientiert sich an der Einkommenssituation vieler Beitragszahler sowie der Tendenz des ÖRR, sich immer weiter auszudehnen: Es gibt zum Ersten immer mehr Sender, die oftmals das gleiche produzieren, und zum Zweiten bietet der ÖRR mit den staatlich verordneten Mitteln im Internet Dienste an, die im Prinzip ausreichend von privaten Medienunternehmen angeboten werden. Diese müssen allerdings damit Geld am Markt verdienen. Dies ist eine sachorientierte Kritik, die noch nicht einmal die Frage aufwirft, ob die Sportschau oder die wiederholte Ausstrahlung von Schlagerfestivals dem Bildungsauftrag des ÖRR entsprechen. Die Existenzberechtigung des ÖRR wird in keiner Weise durch die CDU in Sachsen-Anhalt hinterfragt.
Die AfD hingegen argumentiert ganz anders; sie will den ÖRR abschaffen, den sie mit markigen – historisch belasteten, aber durchaus dem hellblauen Geist angemessenen – Worten grundsätzlich ablehnt. Hier geht es um etwas ganz anderes, nämlich die langfristige Einschränkung objektiver Berichterstattung. Dabei ist der ÖRR nur ein Ziel der Angriffe der AfD; sie wendet sich ja auch gegen private Zeitungen und Zeitschriften. Die AfD bekämpft die freie Presse und das Recht auf Meinungsfreiheit im Grundsatz.
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Insofern kann man nicht ernsthaft behaupten, hier stimmten zwei Parteien miteinander. Ihre äußerst unterschiedlich formulierte und begründete Kritik führt bei einer einzelnen Abstimmung zur Erhöhung der Finanzmittel aber mehr oder weniger zwangsläufig zum selben Ergebnis. Dies wäre ganz anders, wenn es um andere Abstimmungen über den ÖRR ginge, zum Beispiel über die Frage, ob wir ihn überhaupt brauchen. Dann stünde die AfD wohl ziemlich allein.
Allerdings bedeutet diese Situation auch, dass die CDU-Abgeordneten in der Pflicht sind, ihre Position ausführlich und sachlich gut zu begründen. Daran hat es in den letzten Tagen etwas gemangelt. Applaus von der falschen Seite darf nicht dazu führen, für richtig erachtete Entscheidungen nicht zu treffen, verpflichtet aber dazu, diese Entscheidungen sehr sorgfältig zu begründen und abzuwägen.
Es darf aber auf keinen Fall soweit kommen, dass alle demokratischen Parteien immer reflexartig das Gegenteil dessen fordern, was die AfD verlangt. Dann nämlich würde man sich zum Spielball der Populisten machen. Gelegentlich stellt die AfD sogar richtige und wichtige Fragen, allerdings ohne auch nur im Ansatz eine Antwort zu bieten. Wenn diese in der Vergangenheit bereits gestellt und beantwortet würden, wäre uns allen diese Partei erspart worden. Deshalb müssen sich Abgeordnete demokratischer Parteien damit auseinandersetzen und gut begründete Antworten finden – da kann es passieren, dass die AfD in Einzelfällen ähnlich stimmt. Das ist dann kein Problem.
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