Friedrich Wilhelm Graf "Die Entwertung der Religion haben die Kirchen selbst voran getrieben"

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„Die Entwertung der kirchlichen Religion ist von den christlichen Kirchen selbst vorangetrieben worden“

Kardinal Ratzinger hätte gesagt, es sei die Aufgabe der katholischen Kirche, ihre strukturelle Differenz und ihre Einmaligkeit zu markieren - um dann in einen Dialog zu treten mit der Moderne.

Graf: Aber er würde sich niemals zum Pluralismus bekennen, dem Credo offener Gesellschaften. Im Gegenteil: Er würde an der Fiktion eines dem staatlichen Recht vorgeordneten Naturrechts festhalten und den Anspruch erheben, dass die Definitionsmacht der katholischen Kirche in entscheidenden ethischen Fragen der des demokratischen Souveräns überlegen sei.

Wie müssten sich die Kirchen denn Ihrer Ansicht nach auf dem Markt der Sinnanbieter positionieren? Was empfehlen Sie?

Graf: Theologische Selbstbegrenzung. Konzentration auf "gut gemachte" Religion, von der Taufe bis zur Beerdigung. Konzentration auf die großen Feste des Kirchenjahres. Aber um Himmels willen keine Durchdringung des öffentlichen Raums mit moralischen Trivialbotschaften. Man muss es leider so hart sagen: Die Entwertung der kirchlichen Religion ist nicht von der "Modernisierung" und "Individualisierung", sondern vor allem von den christlichen Kirchen selbst vorangetrieben worden. Sie haben für jeden ideologischen Unsinn irgendeine religiöse Formel bereitgestellt...

...und Gott zum Kuschelgott herabgewürdigt?

Graf: Ich sage es so: Wenn unser Leben durch fundamentale Dissonanzen geprägt ist, dann kann es nicht sein, dass gerade in der religiösen Kommunikation diese Widersprüche nicht zur Sprache kommen. Trost zu spenden ist eine wichtige Aufgabe von Seelsorge. Aber zu unserem Leben gehört, wie Hegel gesagt hat, der Stachel des Negativen. Das zentrale Symbol des Christentums ist deshalb das Kreuz.

Innenminister de Maizière hat zehn Punkte definiert, was die deutsche Leitkultur ausmacht. Doch was ist das überhaupt – die Leitkultur? Und gilt sie für das ganze Land, Regionen oder müssen wir nicht größer denken?

Populäre Kirchenkritiker gewinnen heute Zulauf mit der Feststellung, dass es ein Kreuz mit Kirchen und Christen ist.

Graf: Ach, was. Natürlich brauchen wir Kirchen und Gläubige. Ohne ein kirchlich organisiertes Christentum wäre die Tradierung alteuropäischer Kulturbestände schwieriger. Wir brauchen auch Orte, an denen die religiöse Sprache gelebt und gepflegt wird. Und wir benötigen eine Theologie, welche die rationale Auslegung des überlieferten Bestands an Zeichen, Symbolen und Lehren sichert.

Das sagen Sie.

Graf: Sicher, man könnte auch sagen: Das brauchen wir alles nicht mehr. Aber eine Welt ohne Religion wäre eine ärmere Welt. So wie eine Welt ohne Musik oder ohne Kunst eine ärmere Welt wäre. Lassen Sie es mich ruhig ein wenig pathetisch sagen: Die Kirchen müssen wieder ein Ort des religiösen Reichtums werden. Dann ist mir um ihre Zukunft nicht bange.

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